Silver Linings (German Edition)
sie bloß bei uns blieb – vor allem, wo es an dem schlimmen Ort keine Patientinnen gab und die Schwestern alle ziemlich hässlich waren.
In der ersten Woche ließ unsere Studentin uns viel und lange in den Spiegel gucken, damit wir uns selbst richtig kennenlernten, was ziemlich schräg war. Sie sagte so Sachen wie: «Betrachten Sie Ihre Nase. Schauen Sie sie an, bis Sie sie richtig kennen. Beobachten Sie, wie sie sich bewegt, wenn Sie tief einatmen. Bestaunen Sie das Wunder der Atmung. Jetzt sehen Sie sich Ihre Zunge an. Nicht bloß die Spitze, sondern auch die Unterseite. Studieren Sie sie. Denken Sie über die Wunder von Geschmack und Sprache nach.»
Aber eines Tages gruppierte sie uns wahllos in Zweierteams zusammen und sagte, wir sollten uns einander gegenübersetzen und in die Augen schauen. Das mussten wir sehr lange machen, und es war ganz schön merkwürdig, weil es mucksmäuschenstill im Raum war und Männer einander meistens nicht über längere Zeit in die Augen sehen. Dann erklärte sie, wir sollten uns vorstellen, unser Gegenüber wäre jemand, den wir vermissen würden, oder jemand, den wir in der Vergangenheit verletzt hätten, oder ein Familienmitglied, das wir seit vielen Jahren nicht gesehen hätten. Sie sagte, wir sollten diesen Menschen in den Augen unseres Gegenübers sehen, bis die betreffende Person vor uns wäre.
Wie sich herausstellte, hatte es eine starke Wirkung, einem anderen Menschen längere Zeit in die Augen zu sehen. Und wenn ihr mir nicht glaubt, probiert es selbst aus.
Natürlich fing ich an, Nikki zu sehen, was seltsam war, weil ich Danny in die Augen schaute, und Danny ist ein eins neunzig großer Schwarzer, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit meiner Exfrau hat. Und dennoch, während meine Pupillen fest auf Dannys gerichtet waren, meinte ich tatsächlich, direkt in Nikkis Augen zu blicken. Ich fing als Erster an zu weinen, aber andere folgten. Unsere Studentin kam zu mir, sagte, ich sei tapfer, und dann umarmte sie mich, was nett war. Danny sagte nichts.
In dieser Nacht wurde ich von Jackies Grunzen wach. Als ich die Augen aufschlug, dauerte es ein paar Sekunden, bis meine Pupillen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber dann sah ich Danny neben mir stehen.
«Danny?», sagte ich.
«Ich heiße nicht Danny.»
Seine Stimme erschreckte mich, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass er sprechen würde, zumal er ja mit niemandem gesprochen hatte, seit er bei uns war.
«Ich heiße Mad Nipper.»
«Was willst du?», fragte ich. «Wieso bist du in unserem Zimmer?»
«Ich wollte dir bloß sagen, wie ich auf der Straße heiße, damit wir Kumpel sein können. Aber wir sind ja jetzt nicht auf der Straße, also kannst du mich weiter Danny nennen.»
Und dann ging Danny aus dem Zimmer, und Jackie hörte auf zu grunzen.
Für alle an dem schlimmen Ort war es ein ziemlicher Schock, als Danny am nächsten Tag anfing, normal zu sprechen. Die Ärzte meinten, er hätte einen Durchbruch, aber das stimmte nicht. Danny hatte schlicht und einfach beschlossen zu sprechen. Wir wurden wirklich Kumpel und machten an dem schlimmen Ort so gut wie alles zusammen, einschließlich unserer Fitnessübungen. Und nach und nach erzählte Danny mir seine Geschichte.
Als Mad Nipper war er ein aufsteigender Gangsta-Rapper aus North Philadelphia, der von einem kleinen Plattenlabel in New York namens Tougher Trade unter Vertrag genommen worden war. Bei einem Auftritt in einem Klub in Baltimore kam es zu einer Schlägerei, und irgendwie – Danny veränderte die Einzelheiten seiner Geschichte öfters, deshalb kann ich nicht genau sagen, was wirklich passiert ist – schlug ihm einer mit einem Wagenheber auf den Hinterkopf, karrte ihn zum Hafen und warf ihn ins Wasser.
Meistens behauptete Danny, die Jungs einer Rap-Band aus Baltimore – die Vorgruppe von Mad Nipper – hätten ihn zu einem Joint in die Gasse hinter dem Klub eingeladen, doch als er mit diesen anderen Rappern nach draußen ging, hätten sie ihn auf einmal angemacht, dass er in ihrem Revier den Star markiere. Nachdem er ihnen seinen höheren Plattenabsatz entgegengehalten hatte, gingen bei ihm die Lichter aus, und er wachte tot wieder auf, was tatsächlich stimmt, denn in seiner Akte steht, dass er ein paar Minuten tot war, ehe die Sanitäter ihn reanimieren konnten.
Zum Glück für Danny hatte jemand das Platschen gehört, als Mad Nipper ins Hafenbecken fiel, und derjenige fischte ihn aus dem Wasser und schrie um Hilfe, sobald die
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