Silver Linings (German Edition)
mich, ob Danny es je geschafft hat, von dem schlimmen Ort wegzukommen, und die Vorstellung, dass er Weihnachten in einer psychiatrischen Klinik verbringt, macht mich traurig, weil er mir immer ein guter Freund war.
Ich schiebe die Hände in die Taschen des Mantels von meinem Dad und gehe die Olney runter. Durch den Regen ist es ganz schön kalt. Schon bald sehe ich die blau-gelben Fahnen, die die Straßen auf dem Campus säumen, und ich bin froh und traurig zugleich, wieder hier zu sein – fast so, als würde ich mir alte Fotos von Leuten anschauen, die entweder gestorben sind oder zu denen ich den Kontakt verloren habe.
An der Bibliothek gehe ich nach links und komme an den Tennisplätzen vorbei, wo ich rechts abbiege und am Gebäude des Sicherheitsdienstes vorbeigehe.
Hinter den Tennisplätzen ist ein Hügel, von einer Mauer umgeben, auf dem so dicht Bäume stehen, dass du nie im Leben glauben würdest, in Philadelphia zu sein, wenn jemand dich mit verbundenen Augen herführen und dir dann die Augenbinde abnehmen und fragen würde: «Was glaubst du, wo du bist?»
Am Fuße des Hügels steht ein malerisches japanisches Teehaus, das in North Philly völlig fehl am Platze wirkt. Allerdings war ich nie drin, um Tee zu trinken, weil es ein privates Teehaus ist – könnte also sein, dass es innen Großstadtflair hat, keine Ahnung. Nikki und ich haben uns oft auf dem Hügel getroffen, hinter einer alten Eiche, und dort stundenlang im Gras gesessen. Erstaunlicherweise verirrten sich kaum mal andere Studenten dorthin. Vielleicht wussten sie nichts von der Stelle, vielleicht fand sie niemand besonders reizvoll. Aber Nikki saß gern auf dem grasbewachsenen Hügel und schaute hinunter auf das japanische Teehaus, weil sie dann das Gefühl hatte, sie wäre irgendwo anders auf der Welt – irgendwo anders als in North Philadelphia. Und wäre nicht dann und wann in der Ferne eine Autohupe oder eine Polizeisirene zu hören gewesen, ich hätte da oben auf dem Hügel geglaubt, ich wäre in Japan, obwohl ich noch nie in Japan gewesen bin und eigentlich gar nicht weiß, wie es da aussieht.
Ich setze mich unter einem riesigen Baum auf eine trockene Stelle im Gras – und warte.
Regenwolken haben die Sonne vor langer Zeit verschluckt, doch als ich auf die Uhr sehe, zeigen mir die Ziffern, dass die Dämmerung bereits eingesetzt haben muss.
Ich spüre eine Enge in der Brust; ich merke, dass ich zittere und schwer atme. Ich strecke eine Hand aus, um zu sehen, wie schlimm das Zittern ist, und meine Hand flattert wie der Flügel eines Vogels oder vielleicht so, wie wenn mir heiß ist und ich mir Luft mit den Fingern zufächele. Ich versuche, sie still zu halten, und als mir das nicht gelingt, schiebe ich beide Hände in die Manteltaschen in der Hoffnung, dass Nikki meine Nervosität nicht bemerkt, wenn sie kommt.
Es wird dunkler und dann noch dunkler.
Irgendwann schließe ich die Augen, und nach einer Weile beginne ich zu beten:
Lieber Gott, wenn ich irgendwas falsch gemacht habe, zeige mir bitte, was es war, damit ich es wiedergutmachen kann. Ich durchforste mein Gedächtnis, aber mir fällt nichts ein, was Dir Grund geben könnte, böse auf mich zu sein, außer dass ich vor ein paar Monaten den Giants-Fan k.o. geschlagen habe, aber für den Ausrutscher hab ich ja schon um Vergebung gebeten, und ich dachte, wir wären darüber hinweg. Bitte mach, dass Nikki kommt. Wenn ich die Augen öffne, bitte lass sie dann da sein. Vielleicht war viel Verkehr, oder sie hat den Weg hierher vergessen? Sie hat sich ständig in der Stadt verlaufen. Es macht mir nichts aus, wenn sie sich verspätet, aber lass sie bitte wissen, dass ich noch immer hier warte und falls nötig die ganze Nacht warten werde. Bitte, Gott. Ich tue alles. Mach, dass sie hier ist, wenn ich die Augen …
Ich rieche das Parfüm einer Frau.
Ich erkenne den Duft.
Ich atme tief ein, mache mich bereit.
Ich öffne die Augen.
«Scheiße, es tut mir leid, okay?», sagt sie, aber es ist nicht Nikki. «Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommt. Also werde ich jetzt ganz ehrlich zu dir sein. Meine Therapeutin hat gemeint, du wärst in einem permanenten Verdrängungszustand, weil du nie richtig Abschied nehmen konntest, und ich hab gedacht, ich könnte dir das ermöglichen, indem ich so tue, als wäre ich Nikki. Deshalb hab ich mir diese ganze Vermittlungssache ausgedacht, damit du die Chance hast, innerlich Abschied zu nehmen. Ich habe gehofft, das würde dich aus deinem Tief
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