Silvy will die Erste sein
Bitte, bitte, mach die
Augen auf! Bitte, bitte!“
„Red keinen Quatsch“, mahnte
Katrin mit rauher Stimme. „Sieht doch ein Blinder, daß deine Mutter ohnmächtig
geworden ist. Folglich kann sie dich nicht hören, und es hat gar keinen Zweck,
ihr etwas vorzujammern. Ein Arzt muß her.“
„Was für einen Arzt habt ihr?“
fragte Silvy. „Ich werde telefonieren.“
Aber Leonore war in ihrer
Verzweiflung gar nicht mehr ansprechbar; von ihr war keine Auskunft zu
bekommen.
„Nebenan ist Doktor Müllers
Arbeitszimmer“, sagte Ruth vernünftig, „vielleicht finden wir die Adresse auf
dem Schreibtisch. Oder wir müssen uns einen Arzt aus dem Telefonbuch suchen.“
Silvy, Ruth und Katrin liefen
in das Arbeitszimmer, während Olga bei Leonore blieb und versuchte, sie zu
beruhigen.
Tatsächlich fanden die drei
anderen neben dem Telefon einen Merkkasten, auf dessen oberstem Blatt alle
wichtigen Nummern — Arzt, Überfall, Feuerwehr und so weiter — aufgeschrieben
waren.
„Ich ruf gleich an!“ rief Silvy
eifrig.
„Doktor Theodor Horn,
Geibelstraße fünfzehn“, las Katrin, „das ist ja ganz in der Nähe. Ich laufe
lieber hin.“
„Ph!“ machte Silvy. „Du kannst
mir schon zutrauen, daß ich imstande bin zu telefonieren.“
Aber Katrin war nicht in der
Stimmung, sich jetzt auf ein Hickhack einzulassen. Sie rannte wortlos auf den
Flur hinaus, und Ruth folgte ihr.
Erste Hilfe
Katrin und Ruth rasten durch
den strömenden Regen. Beide trugen sie hohe Gummistiefel — die Beutel mit ihren
guten Schuhen und ihre Geschenkpäckchen hatten sie bei Müllers liegenlassen.
Katrin war in einen Kapuzenmantel verpackt, und Ruth hielt ein Schirmchen, das
mit durchscheinendem rosa Plastik bezogen war, über dem Kopf.
„Wäre es nicht doch
vernünftiger gewesen, wir hätten Silvy einfach telefonieren lassen?“ keuchte
sie.
„Nein“, gab Katrin zurück,
„oder glaubst du etwa, ich brause zum Spaß durch diese Sintflut? Denk doch mal
nach! Jeder praktische Arzt macht nachmittags seine Krankenbesuche. Da müßte
Silvy schon viel Glück haben, wenn sie ihn telefonisch erreichen würde.“
„Und wir? Werden wir ihn denn
erwischen?“
„Klar. Wir laufen einfach so
lange herum, bis wir ihn gefunden haben.“
Bis zur Geibelstraße 15 war es
nicht weit. Doktor Horn wohnte in einem hübschen Einfamilienhaus, das große
Ähnlichkeit mit dem Müllerschen hatte. Neben der Haustür war ein weißes
Emailleschild angebracht, auf dem in dicken schwarzen Buchstaben stand: „Dr. med.
Theodor Horn, prakt. Arzt, Sprechstunde montags bis samstags von 9 bis 12 Uhr“.
„Da hast du es“, sagte Katrin
und drückte entschlossen auf die Klingel.
Sie mußten einige Zeit warten,
dann öffnete sich ein Fenster im Erdgeschoß, ein blondes Fräulein in weißem
Kittel mit einer dunklen Hornbrille auf der Nase ließ sich blicken und rief
ihnen zu: „Der Herr Doktor ist nicht zu sprechen!“
„Das wissen wir!“ rief Katrin
prompt zurück und tippte auf das Schild, „wir sind ja nicht blind!“
Das blonde Fräulein zögerte
noch einen Augenblick, dann sagte sie: „Moment, ich komme.“
„Du warst aber ganz schön
frech“, flüsterte Ruth der Freundin zu.
„Tatsächlich?“ fragte Katrin
ganz erstaunt. „Ich habe bloß versucht, Eindruck zu machen.“
Trotz der schwierigen Situation
mußte Ruth kichern.
Das blonde Fräulein öffnete die
Haustür und fragte, alles andere als freundlich: „Was wollt ihr also?“
„Wir wissen, daß der Herr
Doktor unterwegs ist“, sagte Katrin rasch, „aber wir müssen ihn unbedingt
erreichen. Frau Müller, Leonores Mutter, die Frau von Rechtsanwalt Müller, ist
von der Leiter gefallen...“
„Also doch!“ rief das Fräulein.
„Sie wissen es schon?“
„Ja, gerade eben hat mich ein
Kind angerufen, aber, um ehrlich zu sein, ich habe es für einen dummen Witz
gehalten.“
Katrin zog die Augenbrauen hoch
und setzte ein maßlos überlegenes Gesicht auf. „Typisch Silvy“, erklärte sie,
„besitzt keine Lebensart, das Mädchen.“
„Wo können wir Doktor Horn
finden?“ fragte Ruth hastig. „Können Sie ihn nicht telefonisch erreichen? Frau
Müller geht es nämlich wirklich sehr schlecht. Sie liegt auf dem Boden und tut
keinen Mucks.“
Das Fräulein schüttelte den
Kopf. „Leider“, sagte sie, „da kann ich gar nichts machen. Ja, wenn wir ein
Walkie-talkie hätten..
„Aber Sie wissen doch bestimmt,
welche Krankenbesuche er sich vorgenommen hat“, stieß
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