Sine Culpa
ein Zuhälter war und Paul einer seiner Jungs. Steht alles in den Akten.«
»Ja, aber leider fehlen noch immer die Beweisfotos, die die Zeugenaussagen untermauern. Und mich wundert, wieso Bryan schon so früh verdächtigt wurde. Ich finde nirgendwo seinen Namen erwähnt, und trotzdem wurden ab dem dritten Tag Zeugenaussagen über ihn eingeholt.«
»Tatsächlich?« Er legte die Stirn in Falten, offensichtlich bemüht, sich zu erinnern. »Ich bin sicher, dass er schon verdächtigt wurde, als ich noch die Leitung hatte. Später dann sah es so aus, als könnten Bryan und Paul zusammen abgehauen sein. Es kamen von überall Meldungen herein, dass man sie angeblich gesehen hatte, aber seltsamerweise haben wir nie Taylors Wagen gefunden.«
»Wann tauchte Taylors Name zum ersten Mal auf?«
Sie standen noch immer im Treppenhaus, und Nightingale sah, dass Quinlan auf seine Uhr schielte. Sie wollte die Chance nicht vertun.
»Bitte, Sir, es ist wichtig.«
»Das ist mir klar. Ich glaube, einer von Pauls Freunden hat ihn erwähnt, und wir haben dann bei der Schule nachgefragt. Taylor hatte da ein paar Wartungsarbeiten durchgeführt, also hätte er Paul dort kennenlernen können.« Er zog eine Grimasse.
»Was ist?«
»Mir ist gerade was eingefallen. Ist schon komisch, wie leicht man unangenehme Erinnerungen ausblendet. Ich musste die Eltern dazu befragen. Zuerst haben sie bereitwillig bestätigt, dass Paul gelegentlich für Taylor gejobbt hatte, aber als ich dann die Geschichten erwähnte, die so zirkulierten … na ja, es wurde ausgesprochen unangenehm. Sie haben mich rausgeworfen.«
»Und so wurde Bryan Taylor zu Ihrem Hauptverdächtigen?«
»Ja. Wir haben uns einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus besorgt und das … belastende Material gefunden.«
»Und die Leute haben sofort geglaubt, dass die beiden zusammen untergetaucht waren?«
»Ja. Paul hatte vorher schon damit gedroht, er würde weglaufen, und einmal hatte er es auch getan, allerdings nur zu Verwandten. Nach Aussage von Mrs. Hill hatte er am siebten September morgens vor der Schule einen heftigen Streit mit seinem Vater, und dabei habe er gesagt, er wolle ihn nie wieder sehen und so weiter. Meine Vorgesetzten glaubten allmählich, dass an den Gerüchten etwas dran sein könnte, die da von seinen so genannten Freunden verbreitet wurden, dass Paul nämlich ›verduftet‹ war, wie sie es ausdrückten. Das Mitgefühl für den Jungen hatte nachgelassen – er war in der Schule ausgesprochen unbeliebt und galt als komischer Kauz. Nachdem die Presse dann diesen Tratsch aufgegriffen hatte, war es leider sehr schwer, unvoreingenommen zu bleiben.«
»Aber Sie blieben es.«
Nightingale sah die Traurigkeit im Gesicht des Superintendents und begriff, dass er den weiteren Verlauf der Ermittlung zutiefst bedauerte.
»Paul war ein Opfer, da bin ich mir absolut sicher. Er hatte eine depressive Mutter, die ihn vergötterte und mit ihrer Fürsorge erdrückte, und einen schwächlichen Vater, der versuchte, ihn durch Einschüchterung zu kontrollieren. Paul war eigensinnig, sicherlich schwierig. Wahrscheinlich auch sehr verunsichert, was seine Sexualität anging, und er schämte sich, weil er klein war und von einer zarten femininen Schönheit – zum Zeitpunkt seines Verschwindens sah er eher aus wie zwölf, nicht wie vierzehn. Ich habe keinerlei Zweifel, dass er ein Opfer war, und leider auch keinerlei Zweifel, dass Taylor ihn ermordet hat.«
Quinlan wandte sich um und ging die Treppe hinunter.
Nightingale bemerkte seine hängenden Schultern und beobachtete, wie er wieder Haltung annahm, ehe er zur Tür hinaustrat.
Sie ging zurück zu ihren Akten. Quinlan hatte Taylor für einen Mörder gehalten, aber aus den späteren Unterlagen ging deutlich hervor, dass er mit dieser Meinung ziemlich allein dastand. Innerhalb eines Monats hatte die Polizei ihr Augenmerk ausschließlich auf eine landesweite Suche nach den Untergetauchten konzentriert und wurde von zahllosen Meldungen auf Trab gehalten, dass man sie irgendwo gesehen habe, von hoch im Norden bis tief im Süden.
Es war nach halb neun, als sie endlich das Band mit der Befragung fand, die Quinlan erwähnt hatte. Die Aussage von Pauls Freund Victor Ackers war zusammen mit einigen Fotos ganz unten in einer Kiste gelandet. Nightingale hörte sich die Befragung an und merkte gar nicht, wie sich ihr Gesicht dabei verzog. Nur zögerlich gab Victor Auskunft: Wie Paul so komisch geworden wäre, immer angegeben hätte mit seinem
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