Sine Culpa
berufliche Aufmerksamkeit auf die Mitarbeiterin Shelly richtete, die eigentlich für das Studium der Akten vorgesehen war. Robin war verheiratet, und Nightingale missbilligte sein Verhalten. Sie machte keinen Hehl daraus, ohne sich jedoch einzugestehen, dass ihr eigenes Gefühlschaos ihr Urteil verschärfte.
»Ich will die Originalakten in chronologischer Reihenfolge auf dem Tisch da haben, und zwar sofort.«
»Heißt das alle, Ma’am?« Shelly war derart verlegen, dass sie Nightingale fast devot ansprach.
»Ja. Ich bin in fünfzehn Minuten wieder da.« Sie blickte sie beide zornig an, und als sie Robin halblaut fluchen hörte, sagte sie ihm, er solle die Klappe halten. Sein zerknirschter Blick prallte an ihr ab.
In der Kantine zwang sie eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen herunter, dann kaufte sie eine große Flasche Wasser, die sie mit zurück ins Soko-Büro nahm. Dort waren inzwischen Kisten und Ordner auf dem großen Tisch in der Mitte angeordnet worden. Einige davon waren noch ganz staubig, was in ihr Zweifel aufkommen ließ, ob die Arbeit, die sie in den letzten vierundzwanzig Stunden an andere delegiert hatte, auch gründlich genug erledigt worden war. Doch das bestärkte sie nur in dem Plan, den sie gefasst hatte, als sie von Fenwicks Haus abfuhr. Sie war für die Geburtstagsparty eines kleinen Jungen angezogen, weites Rugbytrikot, Jeans und Turnschuhe, die ideale Kleidung für die stundenlange Arbeit, die sie sich selbst zur Strafe dafür verordnet hatte, dass sie so dumm gewesen war, sich wieder mal verletzen zu lassen.
Während Shelly mit weit mehr Sorgfalt als sonst Daten in den Computer eingab, öffnete Nightingale die erste Kiste und nahm einen dicken Aktenstapel heraus, den sie kaum heben konnte. Sie legte ihn links von sich ab, platzierte rechterhand einen großen Schreibblock mit Stift und krempelte die Ärmel hoch. Als sie den ersten Bericht aufschlug, wurde sie in die Welt von Harlden des Jahres 1982 zurückkatapultiert. Sie war eine Schnellleserin und hatte einen Blick für die wirklich wichtigen Passagen aus Berichten und Vernehmungsprotokollen, die sie dann in wenigen Worten zusammenfasste. Shelly, die Nightingale bewunderte und bemüht war, ihre Achtung zurückzugewinnen, erklärte sich bereit, alle notwendigen Fotokopien zu machen, und das erleichterte die Arbeit.
Nach einer Stunde legte Nightingale eine Pause ein und überflog ihre Aufzeichnungen. Schon jetzt ging ihr die traurige Geschichte zu Herzen, die diese verstaubten Akten erzählten.
Nightingale trank einen langen Schluck aus ihrer Wasserflasche und las ein paar der Notizen noch einmal durch.
20 . 15 Uhr . 7 . September 1982 , Sergeant vom Dienst : J . J . Atkins : Anruf von Mrs . Sarah Hill , 26 Penton Cross , Woodhampstead , Harlden , Tel . -Nr . Harlden 632390 . Meldet , ihr Sohn , Paul Christopher Hill , sei nicht von der Schule nach Hause gekommen und auch bei keinem seiner Freunde . Atkins empfiehlt , bis 22 . 00 Uhr zu warten und sich wieder zu melden , falls Sohn dann noch immer nicht da ist .
22 . 25 Uhr . Inspector Quintan veranlasst Suche . Beamtenteam wird nach Penton Cross und zu Pauls Schule geschickt . 23 . 00 Uhr . Suchmannschaft auf 20 erhöht und Chief Constable Windlass verständigt , dass möglicherweise ein Kind vermisst wird .
Gründliche Suche in Pauls Elternhaus und näherer Umgebung . Gleichzeitige Durchsuchung von Schulgebäude und -gelände .
Fallnr . 0816-23 , 07 . 30 Uhr , 8 . September 1982 : Freiwillige verstärken Suchteams aus 45 Beamten ; Suche konzentriert sich auf folgende Gebiete : Das unbebaute Land zwischen den Schrebergärten hinter der Siedlung Penton Cross bis zur Umgehungsstraße A623 sowie erneut Schulgebäude und -gelände bis zum Harlden Park . Weitere Beamte befragen Schüler und Lehrer sowie Nachbarn von Paul .
Im Rückblick wirkte der sachliche Ton des Berichtes schon fast zynisch. Wie leicht es doch war, der überängstlichen Mutter eines Vierzehnjährigen zu sagen, sie solle »noch ein oder zwei Stunden abwarten«. Halb neun Uhr abends war für einen Teenager ja auch kaum besorgniserregend.
Die anfängliche Reaktion der Polizei war absolut korrekt gewesen. Und unter Quinlans Leitung hatten die Beamten der Suchteams mit Sicherheit alles gegeben. Paul war erst seit wenigen Stunden vermisst, und sie waren bestimmt zuversichtlich gewesen, ihn lebend zu finden. Sie hatte Mitleid mit ihnen und las rasch weiter, bis sie die erste Kiste durchhatte und die zweite in
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