Sine Culpa
indem er an heitere Situationen erinnerte, an mutige oder mitfühlende Taten, an Anekdoten, die den Verstorbenen noch einmal lebendig werden ließen.
Obwohl er vorher immer nervös war und seine Verdauung verrückt spielte, war er doch dankbar für die Gelegenheit, einem alten Freund eine letzte Ehre zu erweisen. Heute jedoch war das anders. Das Schuldgefühl und die Angst, die ihn quälten, seit er erfahren hatte, dass Stanley Paul Hills Großvater war, hatten die spontanen Erinnerungen blockiert, die sich normalerweise von allein einstellten, wenn er seine Ansprache vorbereitete. Er klopfte auf die zwei Seiten mit Notizen in seiner Tasche und redete sich ein, dass er nicht zur Salzsäule erstarren würde, wenn der Moment kam.
»Maidment! Hierher.«
Er wandte sich um und sah Edwards, der auf einen leeren Stuhl neben sich zeigte. Er trug seine Orden.
»Hab ein Plätzchen für dich freigehalten. Hältst bestimmt wieder eine kleine Rede, was? Ich auch, nur ein paar Worte, als sein vorgesetzter Offizier, du weißt schon.« Er hatte es bis zum Lieutenant Colonel geschafft, eine Tatsache, an die er den Major bei jeder sich bietenden Gelegenheit erinnerte.
Maidment schluckte, schaute hinüber zu den Familienangehörigen, erkannte dort niemanden und atmete leichter. Stanleys Sarg stand nicht weit weg. Er konzentrierte sich darauf und schloss die Augen. Sein stummes Gebet mit der Bitte um Vergebung wurde durch ein aufgeregtes Raunen unterbrochen. Gesichter schauten nach hinten zur Eingangstür und wandten sich dann mit einem missbilligenden Ausdruck wieder nach vorn. Sarah Hill war gekommen. Trotz der drückenden Schwüle draußen trug sie einen alten Kamelhaarmantel und abgelaufene Stiefel. Außerdem hielt sie ängstlich eine Plastiktüte an die Brust gedrückt.
Eine Frau stand auf und half ihr behutsam in die vorderste Reihe, sodass andere Verwandte, die ihr nur widerwillig Platz machten, zusammenrücken mussten. Maidment richtete die Augen starr geradeaus auf den blauen Vorhang vor dem Loch, das ins Krematorium führte. Sein Darm verkrampfte sich, und er musste sich konzentrieren, um ihn wieder unter Kontrolle zu bringen.
Während der ganzen Trauerfeier meinte er, den Blick der Frau auf sich zu spüren, und als er aufstand, um seine Rede zu halten, zitterten ihm die Knie. Er faltete seine Notizen auseinander und begann abzulesen, was ungewöhnlich war. Bei den ersten Worten versagte ihm die Stimme, er hüstelte und bemerkte einige mitleidige Blicke. Er fing mit einem Gedicht an, das Stanley zu seinem Ausscheiden aus dem Regiment verfasst hatte, ein billiger Trick, aber es brachte sie zum Lachen. Danach flossen die Worte leichter dahin, und er brachte die Ansprache routiniert zu Ende. Anschließend stand Edwards auf und drückte mit hochtrabenden Worten der Familie sein Beileid aus. Dann kam ein Kirchenlied und ein Gebet, und es war vorbei. Als der Sarg über die Rollen hinweg durch den blauen Vorhang glitt, schloss der Major die Augen.
Edwards nahm ihn im Auto mit zum White Hare ,wo die Feier stattfand.
»Der Regen ist unglaublich«, sagte er, als sie durch eine riesige Pfütze hindurch auf den Parkplatz rollten. »Du warst wieder verdammt gut, Maidment, aber ich hab mich gewundert, dass du so bewegt warst.«
»Er war ehrlich und anständig und kein Drückeberger.«
»Ja, aber sein Humor war ziemlich brutal. Weißt du noch, wie er Sergeant Coles Vitaminpillen gegen Abführtabletten ausgetauscht hat? Der arme Bursche dachte, er hätte die Ruhr.« Edwards Schultern bebten erneut in lautlosem Lachen.
»Aber Cole war wirklich ein Sadist. Soweit ich weiß, hat ihm keiner was verraten, bis das Fläschchen leer war und er schon dachte, er müsste sterben. Stanley hatte Glück, dass er da schon versetzt worden war, sonst wären wir schon längst auf seiner Beerdigung gewesen.«
»Wie wahr.« Edwards suchte nach einer Parklücke und hätte fast eine für das Regenwetter viel zu leicht gekleidete junge Frau angefahren. »Verdammt! Sieh dir die an. Genau dein Typ, hab ich Recht?« Er warf Maidment einen vielsagenden Blick zu, doch der wandte die Augen ab.
Als sie den Raum betraten, ließ Maidment den Blick suchend umherschweifen und atmete erleichtert durch. Von Sarahs auffälliger grauer Haarmähne war nichts zu sehen. Unter den Trauergästen waren etliche alte Regimentskameraden, und da Stanleys Nichte, die die Feier organisiert hatte, überzeugte Antialkoholikerin war und daher nur Alkoholfreies gereicht wurde,
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