Sinfonie des Todes
Küche, wo er die restliche Milch vom Vortag verstaut hatte, und setzte zu einem langen Schluck an.
Kurz nach 14 Uhr verließ Robert Fichtner seine Wohnung. Er schlug den Weg ein, der ihn über die Aspernbrücke zur Praterstraße und der Praterallee führte, wo ihm eine Eskadron betrunkener Soldaten entgegenwankte, denen im Eifer eines alkoholischen Gefechts die Pferde abhandengekommen waren. An ihren Uniformen erkannte der Sektionsrat Feldwebel, Zugsführer und Korporale. Er wich ihnen aus und zupfte sich seinen warmen Mantel zurecht. Als er einen älteren Herrn mit dürren Beinen entdeckte, die in einem schäbigen Paar Nankinghosen steckten, blieb er unwillkürlich stehen. Schon die ganze Zeit über hatten ihn Überlegungen in Unruhe versetzt, und mit einem Mal wusste er, dass es so nicht weitergehen konnte.
Der Sektionsrat befühlte das Päckchen in seiner Tasche und machte kehrt. Sein neuer Weg führte ihn quer durch die Innenstadt bis zum Burghof, wo er einen überdachten Fiaker herbeiwinkte. Ein kurliges Männchen saß auf dem Kutschbock, und Fichtner gab ihm die gewünschte Adresse an. Wenig später, als er am Zielort angelangt war und sich anschickte, die Praxis seines Vertrauensarztes zu betreten, kam ihm dieser gerade entgegen. Die Tür flog auf, als ob jegliche böse Dämonen, die dahinter verborgen waren, zu entweichen suchten, und ein etwa 40-jähriger Mann erschien im Rahmen. Es gelang ihm zum Glück, einen Zusammenstoß zu verhindern. Verblüfft blieb er stehen, als er den Sektionsrat erkannte.
»Robert?«, entfuhr es dem Mann. »Du hier? Schnell, komm mit auf eine Spazierfahrt«, sagte er in befehlendem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Ohne Umschweife packte er ihn am Arm und gab dem Kutscher, der soeben dabei gewesen war, das Pferdegeschirr zu richten, ein Zeichen, er möge zufahren, sobald sie eingestiegen waren.
Aus den Augenwinkeln heraus betrachtete Fichtner seinen Mitfahrer, der sich neben ihn in den Wagenverschlag geschwungen hatte und äußerst gehetzt wirkte. Das Barthaar erinnerte an einen spitz zulaufenden Henriquatre-Bart und war tadellos geschnitten, doch an den Enden leicht zerzaust, wie es auch das Haupthaar war. Nervös blickte der Arzt aus der Kutsche. Als sich Fichtner ebenfalls umwandte, konnte er gerade noch erkennen, wie eine junge Rothaarige aus der Praxis gelaufen kam und hilflos nach allen Richtungen Ausschau hielt.
Nachdem ihr Gefährt um die nächste Ecke gebogen war, atmete sein Sozius auf.
»Dein Hosenstall ist offen«, bemerkte der Sektionsrat trocken.
Ohne ein Wort über diese Misere zu verlieren, knüpfte der Arzt den Latz zu. Der Kutscher vor ihnen hatte sich indessen umgedreht, lächelte ihnen durch die Fahreröffnung hindurch zu und meinte jovial: »Wohin soll’s denn gehen, die Herrschaften?«
»Ins Leidinger«, brummte Arthur Schnitzler mürrisch.
6. Kapitel
»Du konntest es also wieder mal nicht lassen, Arthur«, bemerkte Robert Fichtner. »Wer war es denn diesmal? Eine Wäscherin? Eine Modistin? Gar ein Frauenzimmer von der Kärntner Straße?«
»Na geh, die Mizzi war’s bloß, die aus der Strozzigasse. Es war ja nur ein Busserl«, entgegnete der Arzt mürrisch. »Aber sag mir mal: Wie siehst du denn aus, Robert? Du bist blass, und erst deine Augen …«
»Deswegen wollte ich ja zu dir«, meinte Fichtner. »Und noch wegen etwas anderem.«
Die Kutsche holperte über das Straßenpflaster. »Was bedrückt dich?«, erkundigte sich Schnitzler, während er mit ruhelosen, fahrigen Bewegungen seine Kleidung richtete.
Fichtner hielt ihm sein geöffnetes Taschentuch hin. »Siehst du diese Pilze?«
Der Arzt griff danach, hielt sie sich an die Nase und roch daran. Dann nickte er.
»Ich habe dich fragen wollen, ob sie gesund sind.«
»Gesund?«, wiederholte Schnitzler irritiert. »Du meinst, ob sie in deiner besonderen Lage gesund sind? Einem normalen Menschen kommt so etwas doch nicht in den Sinn …«
»Aber du hast dich mit solcherlei Dingen beschäftigt«, insistierte der Sektionsrat. »Damals in der Allgemeinen Poliklinik, wenn ich mich nicht irre. Du sollst viel von Hypnose und Suggestion gesprochen haben.«
Schnitzler nickte. »Das schon, ich habe vor Jahren mal darüber geschrieben, hauptsächlich ging es um funktionelle Aphonie. Aber das hat mit Stimmverlust zu tun und kann nicht mit deinem Fall in Verbindung gebracht werden, Robert. Die Schwindsucht beeinträchtigt zwar den Hals, aber sie kann mit Selbstbeeinflussung nicht kuriert
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