Sinfonie des Todes
ihn Warnstedt.
»Wir haben ihm ungesäumt telefoniert«, erklärte Kronenfeldt, »doch mit seinem Eintreffen war erst in einer Stunde zu rechnen. Wir fanden es effizienter, die Leiche mit den sprichwörtlichen Samthandschuhen anzufassen und die Untersuchungen ad loco voranzutreiben. Die Hand des Toten war nicht feucht, eine Adhäsionsfähigkeit also durchaus vorhanden. Kein Blut, kein Schweiß, perfekte Vorbedingungen.«
»Bereits erste Erkenntnisse?«, wollte Warnstedt wissen. »Irgendwie sagt mir mein sechster Sinn, dass es keinerlei Schmauchspuren gab.«
»Nun«, fuhr Kronenfeldt fort, »wir haben das Paraffin aufgetragen und einige Minuten einwirken lassen; genügend Zeit hatten wir ja. Danach haben wir es aufgeschnitten und abgenommen, bevor wir es noch vor Ort mit Rhodizonatpulver bestäubten. Wir fanden keinen Metallnachweis. Heute Morgen haben wir daher das Paraffin an unsere Chemiker übergeben, damit diese einen Testversuch mit Diphenylamin-Schwefelsäure starten können. Der Befund ist noch ausstehend, doch vermute ich, dass er negativ ausfallen wird.«
»Keine Rückstände des Zündhütchens vorhanden«, zog der Inspektor die Schlussfolgerung. »Kein Nachweis von Schießpulver, kein Metallabrieb aus dem Lauf.«
»Also war es Mord«, wagte Oskar Werlhoff zu behaupten.
Alle nickten zustimmend, und Warnstedt sah sich genötigt, den voreiligen Schlüssen Einhalt zu gebieten. »Das sind überstürzte Aussagen«, stellte er mahnend in den Raum. Er kratzte sich am Ohrläppchen und wandte sich direkt an den Fotografen: »Wie steht es mit den Abzügen?«
»Schon erledigt.«
Der Mann öffnete eine Mappe und breitete die Aufnahmen auf dem Tisch aus. Alles war vorhanden: Brustbild, Nahaufnahme, Totale, die Leiche von vorn, von hinten, von der Seite. Warnstedt griff sich eines der Bilder heraus und legte den Finger darauf. »Er ist schlecht zu erkennen, doch hier sehen wir den Einschuss. Ich frage mich, weshalb sich jemand in die Brust schießen will. Wieso nicht in die Schläfe? Unter 100 Selbstmorden, die mittels einer Schusswaffe durchgeführt werden, gibt es gerade mal vier oder fünf, bei denen die Pistole an der Brust angesetzt wird.« An die beiden Polizisten gewandt, fügte er hinzu: »Gibt es einen Abschiedsbrief?«
»Fehlanzeige.«
»Ein weiteres Indiz für einen Mord«, bestätigte der Fotograf. »Auch mir kommt das Ganze etwas seltsam vor. Ich bin zwar Laie, aber mir war es, als ob die ausgeworfene Hülse am falschen Platz lag.«
Oskar Werlhoff bestätigte die Aussage. »Es stimmt«, meinte er, »dass da irgendwas faul ist. Der Revolver war eine Rast & Gasser. Die Hülse befand sich etwa zweieinhalb Meter neben dem Schreibtisch. Das Auswurfdiagramm stimmt einfach nicht mit früheren Erfahrungen überein, denn theoretisch müsste der Radius, in dem diese Hülse zu erwarten war, viel kleiner sein.«
»Falls – ich betone das nochmals: falls – es einen Mörder gibt: Wie ist er in das Haus eingedrungen?«
»Nirgendwo war eine Scheibe eingeschlagen, keine Anzeichen eines Einbruchs; alle Riegel intakt, keine Schrammen an den Fenstern«, fuhr Werlhoff fort. »Frau Fichtner war der Meinung, dass die Vordertür nicht verschlossen war, als sie nach Hause kam.«
Cyprian überlegte. Für einen Augenblick erwachte die Erinnerung an seine Begegnung mit Lina in ihm und verwirrte ihn. Diese Frau besaß unbestreitbar eine erotische Ausstrahlung, der man sich schwer zu entziehen vermochte. Trauernde Frauen hatten für ihn seit jeher etwas Würdiges an sich, das einen zwar lockte und reizte, doch auch verunsicherte.
»Was für Bücher gab es im Haus?«, fragte er schließlich in Gedanken.
Der Fotograf und die zwei Neulinge glaubten, sich verhört zu haben; die beiden altgedienten Polizisten jedoch lächelten wissend. Die Grille ihres Vorgesetzten, aus dem Leseverhalten eines Menschen Schlussfolgerungen über seinen Charakter zu ziehen, war ihnen bekannt. Es war eine Methode, die keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhielt, doch Warnstedt wandte sie immer wieder an. Er behauptete, dass die unbewusste Eingebung, die man davon erhielt, einen manchmal auf die richtige Spur bringen konnte.
»Am Tatort hauptsächlich Fachliteratur«, antwortete Oskar. »Bücher über Finanzbuchhaltung, einige neuere Aufsätze über das kapitalistische System, etwa der von Bernstein über ›Die Voraussetzungen des Sozialismus‹ oder jener über den Zusammenbruch der Wiener Börse.«
»Und sonst? Außerhalb des
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