Singularität
Ganges. »Gold«, rief sie dem
wartenden Rettungsboot zu.
Über ihren Köpfen blitzten rote Lichter auf: Das
automatische Warnsystem hatte sich mit schrillem Alarm eingeschaltet.
»Sicherheitswarnung! Auf dem grünen Deck, Sektor B,
Offiziersquartiere sind zwei bewaffnete Aufrührer unterwegs.
Bewaffnet und gefährlich. Sicherheitsleute, zum grünen
Deck, Quartiere im Sektor B. Achtung!«
»Scheiße«, murmelte Martin. Zehn Meter vor ihnen
rumpelte eine Sicherheitstür, die in Notfällen für
Druckausgleich sorgte.
Rachel ging wieder zu Kampfgeschwindigkeit über, wobei sich
ihre Sicht schon nach kurzer Zeit trübte. Sie warf sich nach
vorn, blieb unmittelbar neben der Tür stehen und reckte sich
nach oben, um die Schranke der Drucktür aufzuhalten, die sich
bereits senkte. Während sie spürte, wie die Motoren
rotierten, um sie gleich zu zermalmen, bewegte sich Martin mit
eiskalter Langsamkeit vorwärts. Er duckte sich und tauchte unter
der Schranke hindurch. Sie ließ los, folgte ihm und behielt das
schnelle Tempo bei, obwohl ihre Hände und Füße
inzwischen taub wurden und ihr Gesicht wie von tausend Stecknadeln
attackiert prickelte – ein ernstes Warnzeichen. Ihre
Kabinentür war jetzt nur noch zwei Meter entfernt. »Juno!«, rief sie durch ihr Kehlkopfmikrofon. Das
Wort kam als hohes Kreischen heraus, in ihren Ohren klang es wie das
Krächzen eines angejahrten Dinosauriers.
Als die Tür aufschwang, rannte Martin in die Kabine, aber
für Rachel war es zu spät: Ihre Knie gaben nach, sie konnte
nichts mehr sehen und die Kampfgeschwindigkeit nicht mehr
aufrechterhalten. Sie spürte, wie sie wegdriftete, während
eine Prellung an der Schulter ihr zu schaffen machte.
Irgendjemand schleifte sie über Schotter. Und das tat
höllisch weh.
Ihr Herz pochte so stark, als würde es gleich explodieren.
Sie konnte nicht genügend Luft bekommen.
Eine Tür schlug zu.
Dunkelheit senkte sich über sie.
zirkus des todes
Der Revolutionsausschuss hatte in Plotsk die orthodoxe Kathedrale
mit dem Zwiebelturm übernommen und sie zum Hauptquartier des
Kommissariats für Extropianische Ideologie gemacht. All jene,
die die Doktrin der revolutionären Optimierung ablehnten und
sich weigerten, die Stadt zu verlassen, wurden vor das Tribunal
gezerrt und erhielten ebenso lange wie langweilige Lektionen
über die Natur ihrer Vergehen. Danach wurden sie erschossen,
ihre Hirne kartiert, mittels Upload dem Festival einverleibt
und zur Umerziehung durch Arbeit verurteilt. Meistens erfolgte all
das gleichzeitig. Es waren allerdings nicht viele: Der
größte Teil der Bevölkerung war entweder in die
Wildnis geflohen, in höhere Gefilde transzendiert oder hatte
sich fröhlich die Sache der Revolution zu Eigen gemacht.
Die Hütte der Siebenten Schwester, gesponnen aus Erinnerungen
an örtliche Mythen und Legenden, die in der Noosphäre des
Festivals gespeichert waren, hockte sich vor dem Revolutionären
Kommissariat auf den Hof und gab sich ihrem kräftigen Stuhlgang
hin. Gleich darauf stand sie auf und schlenderte auf die
Kirschbäume zu, die den Platz säumten. Sie hatte Hunger,
und die Vorliebe des Bischofs für Kirschblüten würde
sie nicht davon abhalten, sich zu bedienen.
Siebente Schwester rümpfte unangenehm berührt die Nase
und trat den Rückzug an. Im Inneren der Kirche drängten
sich die Kläger, die Schlange standen, um dieses zu fordern oder
jenes zurückzuweisen. Sie hatten sich vor einem Küchentisch
aufgebaut, den man in die Mitte des Kirchenschiffes gerückt
hatte.
Dahinter saß ein halbes Dutzend gelangweilt wirkender
politischer Funktionäre. Der kleine hektische Mensch namens
Rubenstein schwenkte gerade die Arme und redete dem Vorsitzenden ins
Gewissen. Dieser war so üppig mit mechanischen
Zusatzausrüstungen versehen, dass es schepperte, wenn er
aufstand und irgendwohin ging.
Offenbar drehte es sich bei dieser Ermahnung darum, dass
Rubenstein eine Abkehr von der früheren Politik verlangte, die
auf Vernichtung der in ästhetischer Hinsicht Ungebildeten
abgezielt hatte.
Ehrlich gesagt zählte ein solches Vorgehen auch nach
Einschätzung der Kritiker keineswegs zu den Prioritäten.
Schließlich kann man nicht siegreich aus einem Streit über
Ästhetik hervorgehen, wenn der Kontrahent ein Leichnam ist. Aber
aus Sicht der Siebenten Schwester besagte die Tatsache, dass schon
ein, zwei Tage in ihrer Gesellschaft einen Sinneswandel bei
Rubenstein bewirkt hatten, noch längst nicht, dass er selbst
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