Singularität
Platzes der Freiheit.
»Burija, komm schnell! Probleme an den Toren!«
Rubenstein blickte vom Entwurf seiner Proklamation auf. »Was
ist denn los?«, schnappte er. »Drück dich
gefälligst deutlicher aus!«
Der Genosse (hieß er nicht Petrow?) stürmte vor und
blieb vor Rubensteins Schreibtisch stehen. »Soldaten«,
keuchte er.
»Aha.« Burija stand auf. »Schießen sie schon?
Nein? Dann werde ich zu ihnen sprechen.« Er streckte sich, um
die schmerzenden Muskeln zu lockern, und versuchte die Müdigkeit
mit einem Blinzeln zu verscheuchen. »Führ mich zu
ihnen.«
An den Toren zur Getreidebörse hatte sich eine kleine,
aufgeregte Menschenmenge versammelt. Bauersfrauen mit
Kopftüchern, Arbeiter der Eisenfabrik vom anderen Ende der Stadt
(inzwischen machten sie blau, da eine wundersame, fast organische,
von Robotern betriebene Anlage die Mechanik ersetzt hatte und immer
noch wuchs und wuchs), selbst ein paar ausgemergelte, kahl geschorene
Sträflinge aus dem Arbeits- und Umerziehungslager hinter dem
Schloss: Sie alle hatten einen kleinen Haufen verängstigt
wirkender Soldaten in die Zange genommen.
»Was geht hier vor?«, verlangte Rubenstein zu
wissen.
»Diese Männer sagen…«
»Lasst sie für sich selbst sprechen.« Burija
deutete auf den Soldaten, der dem Tor am nächsten stand.
»Du! Du schießt nicht auf uns, warum bist du dann hier,
Genosse?«
»Ich… äh«, der Landsknecht hielt inne, er
wirkte verwirrt.
»Wir ham’s satt, von diesen Aristokraten herumgeschubst
zu werden, deshalb«, sagte sein Nachbar, ein Mann mit
auffällig blasser Haut und der Figur einer Bohnenstange. Sein
großer Pelzhut gehörte ganz sicher nicht zur
Standardausrüstung der Uniform. »Diese Mistkerle und
Schmarotzer von Royalisten ham sich in ihrem Schloss verschanzt,
saufen Champagner und erwarten von uns, dass wir zu ihrer
Verteidigung unser Leben lassen. Und hier draußen lassen
sich’s alle gut gehen, als würden sie schon das Ende des
Regimes feiern. Ich meine, was is hier überhaupt los? Is denn
schon der wahre Geist der Freiheit ausgebrochen?«
»Willkommen, Genossen!« Burija breitete die Arme aus.
»Ja, es stimmt! Mithilfe unserer Verbündeten vom Festival
können wir der reaktionären Junta die eiserne Hand bald
für alle Zeiten abschlagen! Eine neue Wirtschaftsordnung
erblickt das Licht der Welt; die Produktion kostet uns nichts mehr.
Von jetzt an kann alles, was einmal erzeugt ist, unendlich oft
reproduziert werden. Jeder nach seinen Vorstellungen, jeder nach
seinen Bedürfnissen, heißt jetzt die Devise.
Schließt euch uns an! Oder, besser noch, bringt eure
Waffenbrüder und Arbeiter dazu, sich uns
anzuschließen!«
Er war gerade zum Höhepunkt seiner spontanen Ansprache
gekommen, als vom Dach der Getreidebörse ein scharfer Knall
ertönte, woraufhin alle besorgt die Köpfe drehten.
Irgendetwas war in der Fabrik, die Gedecke und Besteck erzeugte,
kaputtgegangen, sodass eine wahre Fontäne von Plastikutensilien
in allen Regenbogenfarben zum Himmel aufschoss, um sich gleich darauf
– wie ein Vorbote der künftigen postindustriellen
Gesellschaft – über das Kopfsteinpflaster zu
ergießen. Arbeiter wie Bauern begafften mit offenen
Mündern die verblüffende Demonstration von
Produktivität und bückten sich gleich darauf, um die grell
farbigen Errungenschaften der Revolution aus dem Dreck zu fischen.
Als Gewehrsalven abgefeuert wurden, streckte Burija mit wildem
Grinsen die Hände hoch, um den Salut der Garnisonssoldaten vom
Schädelberg entgegenzunehmen.
»Es folgen die Abendnachrichten. Nun zu den wichtigsten
Meldungen des Tages: Die Krise, die durch den Einfall des so
genannten Festivals in Rochards Welt ausgelöst wurde, hält
an. Nachdem alle Versuche einer diplomatischen Schlichtung
gescheitert sind, scheint ein militärisches Eingreifen
unvermeidlich. Zwar sind kaum Informationen aus dem besetzten Gebiet
zu erhalten, aber, soweit bekannt, kämpft die Garnison unter
Führung des Herzogs Politowski immer noch heldenhaft, um das
Reichsbanner zu verteidigen. Der Botschafter Turkus, Al-Haq, hat
heute in einer früheren Sendung erklärt, auch die Regierung
von Turku sehe in der Expansionspolitik des so genannten Festivals
eine Friedensbedrohung, die so nicht hinzunehmen sei.
Die Frau, die sich gestern selbst an ein Geländer des
Kaiserlichen Palastes festgekettet hat und das Wahlrecht und Recht
auf Eigentum für Frauen forderte, leidet, wie mittlerweile
bekannt wurde, seit geraumer Zeit an psychischen
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