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Singularität

Singularität

Titel: Singularität Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Geschichte lehrt uns, dass es keine
Revolution geben kann, wenn wir die Massen nicht auf unserer Seite
haben. Wir müssen beweisen, dass die reaktionären
Kräfte angesichts unserer friedensliebenden Macht, die für
freies Unternehmertum und Fortschritt eintritt, verrotten werden,
auch ohne dass wir sie unterdrücken. Sonst wird es uns letzten
Endes nur gelingen, an ihre Stelle zu treten. Und wenn wir das tun,
werden wir von ihnen nicht mehr zu unterscheiden sein. Ist es das,
was ihr wollt?«
    »Nein! Ja! NEIN!« Angesichts des Aufruhrs, der durch den
großen Saal ging, zuckte Rubenstein zusammen. Aufgeladen vom
eigenen Sendungsbewusstsein und allzu viel kostenlosem Weizenbier und
Wodka (möglicherweise künstlich erzeugt, doch in der
Wirkung nicht vom echten zu unterscheiden), gerieten die Delegierten
allmählich außer Rand und Band.
    »Genossen!« Ein Mann mittleren Alters mit blondem Haar
und blassem Gesicht blieb im Haupteingang zum Saal stehen. »Ich
bitte um eure Aufmerksamkeit. Reaktionäre Staffeln der
imperialistischen Junta rücken gerade vor, um das Paradefeld im
Norden zu umzingeln! Der freie Markt ist in Gefahr!«
    »O Scheiße!«, murmelte Marcus Wolff vor sich
hin.
    »Kümmere dich darum, ja?«, sagte Burija. »Nimm
Oleg mit, schaff ihn mir vom Hals, ich werde die Stellung hier schon
halten. Und wenn du schon dabei bist, gib Jaroslaw irgendwas zu tun
– er kann jonglieren, mit seiner Wasserpistole auf die Soldaten
schießen oder sonst was unternehmen. Ich kann’s nicht
brauchen, dass er mir ständig dazwischen fährt.«
    »Mach ich, Chef. Ist es dir ernst damit, dass wir…
äh… niemandem die Köpfe einschlagen sollen?«
    »Ob’s mir ernst damit ist?« Rubenstein zuckte die
Achseln. »Es wäre mir lieber, keine Atomwaffen einzusetzen,
aber du hast freie Hand, alles Nötige zu veranlassen, damit wir
die Oberhand gewinnen – solange wir die Moral hochhalten. Wenn
möglich. Wir können einen Kampf jetzt gar nicht brauchen,
es ist noch zu früh. Warten wir eine Woche damit, und die Wachen
werden desertieren wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen.
Versuch sie für den Augenblick abzulenken. Ich muss ein
Kommunique herausbringen, das dafür sorgt, dass die Katze auf
die Tauben losgelassen wird, die es mit den Lakaien der herrschenden
Klasse halten.«
    Wolff stand auf und ging zu Timoschewskis Tisch hinüber.
»Oleg, komm mit, wir haben was zu erledigen.« Burija merkte
es kaum. Er steckte die Nase in ein Handbuch für ein
Textverarbeitungsprogramm, das das Füllhorn in seinen
Schoß hatte fallen lassen, und war völlig in die
Instruktionen vertieft. Nachdem er sein ganzes Leben damit verbracht
hatte, alles handschriftlich zu verfassen oder es umständlich
auf einer mechanischen Schreibmaschine zu tippen, ähnelte das
hier, wie er fand, allzu sehr der schwarzen Magie. Er wäre schon
glücklich gewesen, hätte er inzwischen herausgefunden, wie
man den Computer dazu bringen konnte, die Wörter in einem Absatz
zu zählen. Aber wenn er es nicht einmal schaffte, den Umfang
eines Textes zu berechnen, wie sollte er dann wissen, wie viel
Anschläge nötig waren, um eine Spalte angemessen zu
füllen?
    Der revolutionäre Kongress hielt sich schon seit drei Tagen
in der alten Getreidebörse verschanzt. Bizarre Auswüchse,
die wie schwarze Farne aus Metall aussahen, hatten das Dach in
Beschlag genommen und verwandelten Sonnenlicht und den Schmutz der
Umwelt zuerst in Elektrizität und anschließend in
Essbesteck und Gedecke aus Kunststoff in fröhlichen Farben.
Godunow, der sich um Speisen und Getränke kümmern sollte,
hatte sich nämlich bitterlich über den Mangel an
Tischgeschirr beklagt (als ob sich irgendein wahrer Revolutionär
mit derart trivialen Dingen abgäbe). Schließlich hatte
sich Mischa, der sich sogar noch intensiver als Oleg mit direkten
Schnittstellen zwischen Computer und Hirnen befasste, an die Nase
gegriffen und die Dinger auf dem Dach damit beauftragt, entsprechende
Utensilien zu produzieren. Danach hatte Mischa irgendetwas erledigen
müssen und war fortgegangen, ohne dass irgendjemand außer
ihm wusste, wie man die speienden Dinger wieder abstellte.
Glücklicherweise schien es an Essen, Munition oder sonstigen
wichtigen Dingen noch nicht zu mangeln. Offenbar hatte Burijas Bluff
den Herzog tatsächlich davon überzeugt, dass der
demokratische Sowjet über Atomwaffen verfügte; jedenfalls
hielten dessen Dragoner derzeit großen Abstand zu dem gelben
Ziegelsteingebäude am Ende des

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