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Singularität

Singularität

Titel: Singularität Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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merkwürdig vorkam. Irgendetwas, das man ihm
über die Landessitten beigebracht hatte, nagte an seinem
Gedächtnis. »Tun Sie so, als freuten Sie sich, mich zu
sehen«, zischte sie ihm zu. »Wegen der Kameras. Sie
führen mich zum Abendessen aus. Und nennen Sie mich Ludmilla,
wenn andere dabei sind.«
    »Gewiss doch.« Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Meine Liebe! Wie schön, Sie zu sehen!« Er hakte sie
unter und bemühte sich, ihrem Beispiel zu folgen. »Wo
geht’s lang?«, murmelte er.
    »Für einen Amateur halten Sie sich wacker. Dritter
Eingang rechts. Es ist ein Tisch auf Ihren Namen reserviert. Ich bin
die Begleiterin, die Sie sich für diesen Abend ausgesucht haben.
Tut mir Leid wegen dieser Mantel-und-Degen-Szene, aber der
Sicherheitsdienst des Stützpunkts überwacht Sie. Und wenn
ich hier offiziell und in eigener Person auftreten würde,
könnten die anfangen, Ihnen Fragen zu stellen. Es ist viel
einfacher, wenn ich eine Frau von zweifelhafter Tugend
darstelle.«
    Martin wurde rot. »Verstehe.« Schließlich fiel bei
ihm der Groschen: In dieser puritanischen Gesellschaft galt eine
Frau, die unterhalb des Kinns nackte Haut zeigte, vorsichtig
ausgedrückt als halbseiden. Jetzt, da er näher darüber
nachdachte, bedeutete das auch, dass das Hotel voller…
    »Sie haben die Annehmlichkeiten des Hotels seit Ihrer Ankunft
also noch gar nicht genutzt?«, fragte sie und zog eine
Augenbraue hoch.
    Martin schüttelte den Kopf. »Ich halte nicht viel davon,
in Ländern mit anderer Rechtsprechung verhaftet zu werden«,
murmelte er, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Und die
örtlichen Sitten sind recht verwirrend. Was halten Sie denn
davon?«
    Sie drückte seinen Arm. »Kein Kommentar«, sagte sie
leichthin. »Schließlich erwartet man hier von Damen, dass
sie nicht fluchen.« Als er ihr die Tür aufhielt, raffte sie
die Röcke. »Aber ich glaube nicht, dass sich diese
Gesellschaftsordnung noch lange hält. Die haben viel Energie
investieren müssen, um den Status quo überhaupt so lange
bewahren zu können.«
    »Das klingt ja so, als freuten Sie sich auf den
Zusammenbruch.« Er streckte einem Kellner in Livree seine Karte
hin, worauf der sich verbeugte und ins Restaurant eilte.
    »Stimmt. Sie etwa nicht?«
    Martin seufzte leise. »Da Sie’s erwähnen: Ich
würde dem Status quo kein Träne nachweinen. Ich will nichts
anderes, als diese Arbeit hinter mich bringen und dann zurück
nach Hause.«
    »Ich wünschte, mein Leben wäre so einfach. Ich kann
mir Wut nicht leisten. Schließlich soll ich dazu beitragen,
diese Gesellschaft vor den Folgen ihrer eigenen Dummheit zu bewahren.
Ist schon schwer, soziales Unrecht zu beseitigen, wenn alle Leute,
denen man helfen will, tot sind.«
    »Ihr Tisch, Sir.« Der Kellner war wieder da und
verbeugte sich tief. Sofort kicherte Rachel albern los. Während
sie ihm ins Restaurant folgten, in einer abgeteilten Nische Platz
nahmen und das Tagesmenü bestellten, spielte sie auch weiterhin
das Dummchen, hörte aber sofort damit auf, als der Kellner
verschwunden war. »Sicher wollen Sie wissen, was hier los ist,
wer ich bin und um was es überhaupt geht«, sagte sie leise.
»Außerdem möchten Sie auch in Erfahrung bringen, ob
eine Zusammenarbeit mit mir ratsam ist und was für Sie selbst
dabei herausspringt, stimmt’s?«
    Da er keine Lust hatte, den Mund aufzumachen, nickte er nur und
fragte sich dabei, wie viel sie über seinen wahren Auftrag
wissen mochte.
    »Gut.« Sie sah ihn mit nüchternem Blick an.
»Ich setze voraus, dass Sie mich jedenfalls nicht an den
Sicherheitsdienst des Stützpunkts verpfeifen werden. Das
wäre auch ein schlimmer Fehler. Wenn nicht für Sie, dann
zumindest für viele andere Menschen.«
    Er senkte den Blick und starrte auf das Tischgedeck –
silbernes Besteck, eine Leinenserviette, eine gestärkte
Tischdecke, die in Kaskaden zu Boden fiel. Und auf Rachels
Brüste. Ihr Kleid machte es unmöglich, sie nicht zu
beachten, auch wenn er sich bemühte, nicht hinzusehen. Sie
wirkte tatsächlich wie eine Frau von zweifelhafter Tugend.
Schließlich verlegte er sich darauf, ihr Gesicht zu mustern.
»Hier geht irgendetwas vor sich, das ich nicht begreife«,
bemerkte er. »Was ist es?«
    »Wird sich alles klären lassen. Aber als Erstes
möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Nachdem Sie sich mein Angebot
angehört haben, können Sie gehen, es sei denn, Sie
beschließen, sich an dieser Sache zu beteiligen. Das ist mein
Ernst. Ich habe letztes Mal dicker aufgetragen,

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