Sinnliche Maskerade
strich sie sich über die Wange, bevor sie, immer noch ausdruckslos, fortfuhr:
»Sir, ich nehme an, dass Sie der Bibliothek ihren wahren Wert zukommen lassen wollen? In diesem Fall ist es notwendig, die größte Bandbreite möglicher Käufer zu erreichen.«
Wie erwartet hatte sie den entscheidenden Schlag geführt. Ihr Dienstherr blies die Wangen auf und nickte heftig.
»Selbstverständlich. Selbstverständlich. Es liegt ganz bei Ihnen, den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen. Nun, ich will es also Ihnen überlassen.« Er nickte immer noch, als er sich erhob und sie wieder allein ließ.
Alexandra schloss kurz die Augen. Lady Maude. Wieder einmal. Die Frau schien fest entschlossen, ihr Schwierigkeiten zu bereiten. Verspürte die Lady etwa eine Gefahr in ihrer Anwesenheit auf Combe Abbey? Nein, das war lächerlich. Wie konnte eine geduckte, verarmte und unansehnliche Jungfer gegenüber einer Lady Maude, Ehefrau des Hausherrn und des Lords Sir Stephen Douglas, eine Bedrohung darstellen? Aber es lag in Lady Maudes Natur, dass sie andere Leute gern schikanierte, und wie alle Tyrannen suchte sie sich stets die Schwächsten als Opfer aus. Mistress Hathaway hing vom guten Willen ihres Dienstherrn ab, und ganz bestimmt verhielt es sich so, dass seine Ehefrau sich über dessen schützende Hand aufregte. Es erweckte zwar nicht den Eindruck, als würde Lady Maude die Gesellschaft ihres Mannes besonders genießen, aber ob sie ihr deshalb die Zeit verübelte, die er mit der Bibliothekarin verbrachte? Natürlich bestärkte es sie nur in ihrem Groll, wenn Sir Stephen seine Angestellte gegen die Kritik seiner Ehefrau in Schutz nahm.
Soweit Lady Maude Bescheid wusste, hatte Mistress Hathaway keine andere Möglichkeit, sich ihr tägliches Brot und ein Dach über dem Kopf zu verdienen. Sofern sie aus Combe Abbey hinausgeworfen würde, konnte sie durchaus im Arbeitshaus landen. Eine Aussicht, über die Lady Maude sich freuen würde, dachte Alex mit grimmigem Lächeln. Aber noch mehr würde sie es genießen, Alex in einer Gefängniszelle schmachten zu sehen, während sie auf ihre Strafe wartete. Und das würde geschehen, sobald jemand ihre Verkleidung durchschaute. Irgendjemand außer Peregrine Sullivan.
Die Bibliothek - der Ort, den sie ihr ganzes Leben lang geliebt hatte — wurde plötzlich zur Bedrückung. Ja, sogar das Haus selbst schien sich über ihr zu schließen, und zum ersten Mal empfand sie die Last der selbst auferlegten Aufgabe als unerträg-lich. Wie lange würde sie die Scharade noch spielen können? Wie oft würde sie es noch fertigbringen, sich morgens in jemand anders zu verwandeln? Wie lange konnte sie noch weitermachen, ohne in echte Verbindung zu jemandem zu treten, der mit diesem Theater nichts zu tun hatte?
Sie musste für eine Weile aus dem Haus verschwinden, ihr Spiel nur eine kleine Weile unterbrechen. Wenn es ihr gelänge, für eine gewisse Zeit auf Abstand zu Lady Maude zu gehen, würde die Lady sich vielleicht jemand anders suchen, den sie quälen konnte. Aber wie verfahren? Welche Ausrede konnte sie Vorbringen, Combe Abbey für ein oder zwei Tage zu verlassen?
Und dann fiel es ihr ein. Das Gespräch mit Sir Stephen gerade eben hatte ihr den perfekten Vorwand geliefert, für ein oder zwei Tage zu verschwinden. Es würde sie vorübergehend aus Lady Maudes Blickfeld rücken und von Peregrine Sullivan befreien. Wenn sie nach Combe Abbey zurückkehrte, wäre er längst verschwunden. Und wenn ihr dabei nicht auch ein kleiner Abstecher nach Barton zu Sylvia gelänge, wäre sie nicht annähernd so erfindungsreich, wie sie sich selbst so gern einbildete.
Ihre Stimmung stieg. Die Aussicht auf Freiheit, wie begrenzt auch immer sie sein mochte, versetzte sie in einen regelrechten Rausch. Rasch verließ sie die Bibliothek und machte sich auf die Suche nach Sir Stephen.
Sie fand ihn zusammen mit seiner Frau und einigen Hausgästen im Salon. Die französischen Türen öffneten sich weit auf die Terrasse, die sich längs am Haus entlangzog, den Weg auf den Rasen freigab und von dort aus auf die Klippe. Inmitten eines kleinen Kreises ähnlich beschäftigter Ladys saß Lady Maude mit ihrem Stickrahmen und stickte. Als die Bibliothekarin schüchtern das Zimmer betrat, schaute die Lady auf, ganz wie von Mistress Hathaway gewollt. Gewöhnlich verließ sie die Bibliothek tagsüber nicht, und Lady Maude blickte sie an, als sei sie ein unangemessenes Insekt, wie Alexandra dachte. Gebieterisch krümmte sie den Finger.
»Ich
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