Sinnliches Erwachen
sich sitzen. Ihre Züge waren entspannt, nicht sorgenverzerrt wie beim letzten Mal, und sie blickte nach unten. Das glänzende Haar hatte sie hochgebunden, und ihre Kleider waren sauber und ordentlich. Und sie war schlichtweg atemberaubend.
Er bewegte die Zunge im Mund, schmeckte Minze. Sie musste ihm die Zähne geputzt haben. Auch wenn sein Arm sich noch schwach anfühlte, zittrig, schaffte er es, die Hand zu heben und eine Locke zwischen die Finger zu nehmen. Überrascht schnappte sie nach Luft und wandte sich ihm zu. Und von Neuem stockte ihm der Atem. Diese Augen … ein Sommergewitter, schwüle Hitze, dampfende Blumengärten.
„Du bist wach.“ Sie beugte sich über ihn und legte ihm die Handfläche an die Stirn. „Und dein Fieber ist weg.“
In dieser Haltung drückte sich ihr Leib ganz köstlich an ihn. Dann richtete sie sich wieder auf, unterbrach den Kontakt, verärgerte ihn.
„Wie lange war ich weg?“, fragte er, und seine Stimme klang rau. Er machte eine kurze Bestandsaufnahme. Er war nackt, über seine Mitte war eine Decke gebreitet.
„Drei Tage.“
Und wieder hatte er drei Tage an seinen Vater verloren. Er erinnerte sich, wie … er mit den Nefas und den Dämonen gekämpft hatte, wie er nach der Ankunft der Gesandten mit ihrer Hilfe gewonnen hatte, wie er sich danach jedoch nicht mehr hatte teleportieren können. War die Fähigkeit wieder zurückgekehrt? Am liebsten hätte er es sofort ausprobiert, doch er wollte nicht von Nicola fort. Außerdem wusste er, dass es besser wäre, zu warten, bis er stärker war. Wenn er jetzt scheiterte, bloß weil er noch geschwächt war und das Gift noch nicht ganz abgebaut hatte, würde er nur kostbare Zeit und Energie damit verschwenden, sich Sorgen zu machen.
„Ach, und bevor ich’s vergesse, Axel hat gesagt, ich soll dir sagen, dass er sich um dein schmutziges kleines Geheimnis hinterm Haus gekümmert hat.“
Meine Mutter, erinnerte er sich, und seine Anspannung wuchs.
„Ich wollte so nah wie möglich bei dir bleiben und hab noch nicht nachgeforscht, was es damit auf sich hat – was ich jedoch fest vorhabe, da bin ich ganz ehrlich. Also kannst du genauso gut die Hosen runterlassen und mir erzählen, was das für ein schmutziges kleines Geheimnis ist“, fuhr sie fort.
Schon länger hatte er es ihr erzählen wollen. Nur … nicht gerade jetzt. Er würde es ihr sagen, wenn er wieder bei Kräften war. „Nichts, was dich betrifft“, krächzte er.
„Du vertraust mir nicht?“ Eine geballte Ladung Schmerz lag in ihrem Tonfall.
„Ich vertraue dir mehr, als ich jemals irgendwem sonst vertraut habe, aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“ Um sie abzulenken, fragte er: „Was hast du die ganze Zeit gemacht?“
Es verging ein Moment. Dann seufzte sie. „Ich hab mich um dich gekümmert, hab deine Freunde bewirtet. Bin ruhig geblieben, zufrieden. Und weißt du was? Tief in mir drin wusste ich, dass du gesund wirst. Genau wie ich! Ich werde auch immer stärker. Ist das nicht wundervoll?“
„Wundervoll“, wiederholte er. Wenn es ihr besser ging …
Sie legte seine Hand zurück an seine Seite und nahm ein Glas Wasser vom Nachttisch. „Du hast übrigens im Schlaf geredet.“
Wieder versteifte er sich. „Worüber?“
Ein trauriger Schimmer trat in ihre Augen, als sie leise antwortete: „Über eine Mutter, die dir die Flügel ausgerissen hat, und über einen Vater, der dich in eine Schlangengrube geworfen hat. Du hattest ja schon gesagt, dass sie furchtbar zu dir waren, aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie furchtbar.“ Sie hielt ihm einen Strohhalm an die Lippen. „Trink.“
Gehorsam trank er. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Protestierend regte sich sein Magen, hätte fast die kühle, süße Flüssigkeit zurückgesandt, die ihm durch die Kehle rann. Vielleicht war es doch an der Zeit, ihr von seiner Mutter zu erzählen.
„Wie wär’s, wenn ich dir was aus meiner Vergangenheit erzähle?“, schlug sie vor. „Dann haben wir wieder Gleichstand.“
Vielleicht aber auch nicht. Neugierig nickte er, begierig auf mehr Informationen über sie. Egal, was für welche.
„Nun ja … vor einigen Jahren sind meine Mutter, mein Vater und mein kleiner Bruder von einem betrunkenen Autofahrer totgefahren worden.“
Das hatte er bereits gewusst, doch der Schmerz in ihrer rauchigen Traumstimme traf ihn tief.
„Robby hätte an jenem Tag eigentlich gar nicht bei ihnen sein sollen. Er sollte bei mir und Laila bleiben.“ Schuld
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