Sinnliches Erwachen
aus dem Zimmer gezogen wurde. Dann rannte die Schwester wieder hinein und schlug die Tür zu, womit Nicola allein auf dem Flur zurückblieb. Tränen traten ihr in die Augen, flossen über, rannen ihr die Wangen hinab. Sie legte sich die Hand flach aufs Herz. Das Flattern war fort, aber ihr Puls ging immer noch zu hart, zu schnell. Schwarze Punkte begannen sich in ihrem Sichtfeld auszubreiten. Ihr Atem versengte ihr die Lungen, gleichzeitig wurde ihr Blut eiskalt.
Ihre Schwester war da drin, sie schrie und schrie und schrie, litt offenbar schlimmere Schmerzen als je zuvor. Jeden Moment könnte Laila sterben, doch Nicola war nicht bei ihr. Nur Fremde waren dort.
Wie hatte sie das tun können? Wie hatte sie so viel aufs Spiel setzen können, ohne mehr zu wissen?
Die schwarzen Punkte wurden immer dichter. Die Luft, die sie einatmete, wurde noch heißer, das Blut in ihren Adern verwandelte sich in zähen Eisschlamm. Sie wusste, dass sie jetzt jede Sekunde in Ohnmacht fallen würde, also versuchte Nicola, sich hinzusetzen. Doch im nächsten Augenblick gaben ihre Knie unter ihr nach, und sie fiel vornüber.
Hart krachte ihr Gesicht auf den gefliesten Boden, dann wusste sie nichts mehr.
Jemand zog Nicolas Augenlider hoch, und plötzlich verscheuchte ein helles Licht die Dunkelheit. Langsam weckten einzelne Details ihre Aufmerksamkeit. In ihren Schläfen pochte es, in ihren Ohren lag ein stetiges Piep, Piep, Piep, und etwas Kaltes strömte durch ihren Arm.
Eine Stimme schien sie zu locken, aber sie verstand die Worte nicht. Ein noch helleres Licht huschte über ihr eines Auge, dann über das andere. Sie versuchte, sich abzuwenden, aber ihr Kopf war zu schwer, um ihn zu bewegen. Dann wollte sie nach oben greifen und das blöde Licht wegschieben, woher auch immer es kam, doch ihr Arm war noch schwerer.
Sie fühlte sich, als wäre sie am Steuer eingeschlafen und in einem zerquetschten Wrack wieder aufgewacht, den zerschlagenen Körper unentrinnbar eingeklemmt. Die Hilfe war wohl noch unterwegs.
„Nicola?“
Falsch gedacht. Hilfe war eingetroffen.
Hektisch blinzelte sie, bis sie ihren Blick endlich fokussieren konnte. Über sie gebeugt stand ein Mann. Er hatte dunkles Haar, dunkle Augen, und seine Haut war von einem betörenden Schwarz. Er trug einen weißen Kittel und ein Stethoskop um den Hals. Dr. Carter aus dem Kreiskrankenhaus, wurde ihr klar. Lailas Arzt.
„Sie haben das Bewusstsein verloren“, erklärte er ihr in sanftem Ton.
„Nein, ich …“ Sie hatte das Bewusstsein verloren, begriff sie. Die Erinnerung spulte sich vor ihrem geistigen Auge ab, und sie sah sich in Lailas Zimmer stehen. Koldo hatte ihrer Schwester einen Tropfen von irgendetwas gegeben, dann war er verschwunden, und Laila hatte begonnen zu schreien. Eine Krankenschwester hatte Nicola aus dem Zimmer geschoben, und die Angst hatte sie überwältigt.
Jetzt lag sie selbst in einem Krankenhausbett, einen Tropf am Arm und ein papierdünnes Hemdchen als einziges Kleidungsstück.
„Wir haben Ihren Herzschlag heruntergeregelt“, informierte er sie.
Mir doch egal. „Laila“, brachte sie hervor und versuchte, sich aufzusetzen.
Sanft drückte Dr. Carter sie zurück ins Kissen. „Sie haben sich ziemlich hart denKopf angeschlagen, als sie hingefallen sind. Um präzise zu sein, Sie haben eine Gehirnerschütterung, und wir werden Sie für den Rest des Tages und die kommende Nacht hierbehalten.“
„Laila“, wiederholte sie mit einer Stimme kaum mehr als ein Krächzen.
Jetzt hoben sich seine Mundwinkel zu einem langsamen Lächeln. „Es ist wirklich erstaunlich. Nachdem wir es geschafft hatten, sie zu beruhigen, haben wir entdeckt, dass ihre Vitalzeichen stärker waren als seit Wochen. Dann haben wir ihr Blut abgenommen, und die Werte waren unglaublich. Ihre Leber und die Nieren arbeiten endlich wieder richtig, und ihr Herzschlag ist vollkommen regelmäßig.“
„Sie … sie …“
„… könnte tatsächlich überleben“, bestätigte er.
Und mit einem Mal strömte pure Freude durch Nicola hindurch, stärker als jedes Medikament. Freude, die Koldo in ihr gesät hatte. Laila war auf dem Weg der Besserung! Koldo hatte die Wahrheit gesagt. Er hatte … ihre Schwester für eine kleine Weile gerettet, erinnerte Nicola sich. Nur für eine Weile. In ihre Freude woben sich Fäden der Enttäuschung. Er hatte gesagt, er könnte ihrer Schwester Zeit verschaffen, nicht mehr.
In jenem Moment hatte es sich so verlockend angehört. Und jetzt? Jetzt
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