Sinnliches Erwachen
wollte sie mehr.
Zeit. Zeit. Unaufhörlich hallte das Wort durch ihren Geist, regelmäßig wie das Ticken einer Uhr. Wie viel Zeit blieb ihrer Schwester? Koldo hatte gesagt, sie hätte nicht mehr als ein paar Wochen. Und als Nicola die Worte fortnahm und dahinterblickte, begriff sie, dass Laila ihr auch wesentlich früher entgleiten könnte. Innerhalb einiger Tage.
Selbst morgen schon.
In einer Stunde.
„Ich will sie sehen“, platzte sie heraus.
Dr. Carters Lächeln wurde breiter, als er sich zur Seite wandte und mit dem Arm auf die Patientin in dem Bett neben ihrem wies. „Jederzeit.“
Als ihr Blick auf die schöne Blonde unter einem Berg von Decken fiel, kehrte ihre Freude mit ganzer Macht zurück. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihre geliebte Laila lag auf der Seite, ihr zugewandt, und zum ersten Mal seit Monaten hatten ihre Wangen eine gesunde Farbe. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem ging gleichmäßig. Ganz von allein hob und senkte sich ihr Brustkorb ohne die Hilfe einer Maschine. Ihre Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen. Einem weichen, glücklichen Lächeln.
Ich habe mich vollkommen umsonst gesorgt, begriff Nicola. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich damit sogar geschadet. Wäre sie ruhig geblieben und hätte Koldo vertraut, dann wäre sie auf den Beinen gewesen, um die Nachricht von der Erholung ihrer Schwester zu erfahren. Sie hätte jubeln und lachen und mit eigenen Augen zusehen können, wie Laila stärker wurde. Diesen Fehler werde ich nie wieder begehen.
„Es ist ein Wunder“, befand Dr. Carter. „Wenn sie sich weiter in diesem Tempo erholt, sollte sie in ein paar Tagen nach Hause kommen können.“
„Wirklich?“
„Wirklich. Im Moment ruht sie sich aus, und ich schlage vor, Sie tun dasselbe. Wir werden alle paar Stunden nach Ihnen sehen.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie. „Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es uns wissen.“
„Das werde ich. Und vielen Dank.“
Er nickte und verließ das Zimmer.
Staunend betrachtete Nicola ihre Schwester. Wie viele Nächte hatten Laila und siegemeinsam wach gelegen, zusammen im selben Bett, aneinandergekuschelt und Geheimnisse flüsternd? Unzählige. Und das würden sie wieder haben.
Laila seufzte leise und …
Oh, whoa, whoa, whoa.
Nicola rieb sich die Augen, aber … sie sah immer noch einen hässlichen kleinen Affen mit Tentakeln anstelle von Armen auf Lailas Bett hocken. Mit hasserfülltem Blick starrte das Wesen Nicola an, während es Lailas Arm streichelte, als versuchte es, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Eine Halluzination? Es musste so sein. Schließlich hatte sie eine Gehirnerschütterung. Aber … aber … Es sah so echt aus. Genau wie die Monster, die sie als Kind immer gesehen hatte.
Koldo materialisierte sich neben Nicolas Bett, zog all ihre Aufmerksamkeit auf sich und füllte ihre Gedanken aus. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte die Überraschung ihren Herzschlag durcheinandergebracht. Denn, jetzt mal ehrlich, sie glaubte nicht, dass sie sich je an den Anblick eines Mannes gewöhnen würde, der einfach so aus dem Nichts auftauchte. Aber im Augenblick war sie vollgepumpt mit ziemlich starken Medikamenten, die jegliche Art von negativen Reaktionen unterdrückten.
„Siehst du das?“, fragte sie ihn unvermittelt.
„Was?“, entgegnete er und drehte sich um.
Der Affe war weg. „Ach, egal.“
Stirnrunzelnd blickte er auf sie herab. „Ich habe die Erlaubnis bekommen, zurückzukommen, den Stachel in meinem Fleisch eine weitere Stunde hinter mir zu lassen und nach dir zu sehen. Offenbar bin ich eine ziemliche Bestie, wenn man mit mir zusammen sein muss. Und dann muss ich erfahren, dass du verletzt bist?“ In seinem Ton schwang eine Spur Zorn mit. „Warum bist du verletzt?“
„Ich hab mir den Kopf angeschlagen, als ich in Ohnmacht gefallen bin“, gestand sie.
„Und warum bist du in Ohnmacht gefallen?“ Er beugte sich vor und strich ihr mit schwieligen Fingerspitzen über die Stirn, genau da, wo sie aufgeschlagen war, als sie das Bewusstsein verloren hatte. Ein scharfes Stechen ließ sie zusammenzucken, und er zog die Hand zurück, einen Anflug von Scham in den Augen.
Ein Teil von ihr betrauerte den Verlust seiner Berührung, ob sie nun schmerzte oder nicht. Gerade hatte er sie auf nicht medizinische Weise berührt, und für sie war es die erste Berührung dieser Art, seit Laila eingeliefert worden war. Es hatte ihr gefallen. Und zwar sehr.
Er war so warm. So lebendig.
So …
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