Sinnliches Erwachen
Magengrube.
„Mit Geweihen! Und Fell! Sie haben uns eingekreist, kamen von allen Seiten, und das war der Moment, als ich den Höchsten angerufen habe. Er hat Engel geschickt – oder vielleicht auch Gesandte. Sie hatten riesige blaue Flügel. Ein Blau, wie ich es noch nie gesehen hab, strahlend und glitzernd, fast wie ein Wasserfall aus Glitter. Und ihre Gewänder waren das Weißeste, was mir je unter die Augen gekommen ist.“
„Echte Engel.“ Er nickte. „Erzähl weiter.“
„Es gab einen Kampf, und dann, zack, hatten die Engel gewonnen, die Dämonen waren verschwunden, und Laila und ich konnten den Park unverletzt verlassen.“
Soso. Die Nagas waren also genau an dem Tag wieder auf Nicola losgegangen, als Koldo aus seinem Giftkoma erwacht war. Das konnte kein Zufall sein.
„Diese Tätowierung wirst du nicht bereuen“, versprach er ihr. „Was ich dir auf die Haut schreibe, wird dich beschützen, genau wie die Engel heute, aber es wird auch noch etwas tun, wozu sie nicht in der Lage sind. Es wird dich stärken, wenn du am schwächsten bist. Lass es mich tun. Bitte.“
„Aber … aber …“
„Habe ich dich je angelogen? Dir je den falschen Weg gewiesen?“
„Nein“, gab sie leise zu.
Er streckte die Hand aus und fuhr mit dem Finger an ihrem Kiefer entlang. „Lass es mich tun“, wiederholte er. „Bitte.“
Es verging ein Moment. Schließlich trat ein entschlossener Zug um ihren Mund. Sie streifte ihre Strickjacke ab und rollte die Ärmel ihrer Bluse hoch. „Also gut.“
Erleichterung und Befriedigung brandeten in ihm auf, und am liebsten hätte er sich mit den Fäusten auf die Brust getrommelt. Sie vertraute ihm vollkommen und ohne Vorbehalte. Das war eine Premiere, und er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um sich ihres Vertrauens würdig zu erweisen. „Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, aber das wird jetzt wehtun, Nicola.“
„Hab ich mir schon gedacht“, entgegnete sie trocken.
Bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, machte er sich an die Arbeit. Als die Nadel die ersten Male laut surrend in ihre Haut fuhr, zuckte sie zusammen und schnappte nach Luft. Zweimal hätte er fast aufgehört, aber beide Male rief er sich in Erinnerung, dass es zu ihrem Besten war. Es war notwendig.
„Lenk mich ab.“ Ihre Stimme klang gepresst. „Bitte.“
„Wie?“
„Erzähl mir … wie du alterst. Oder ob du überhaupt alterst.“
„Ich war einmal ein kleiner Junge, ein Kind im Vergleich zu meinen Eltern.“ Jetzt sahen er und seine Mutter gleich alt aus. „Ich habe mich normal entwickelt, genau wie ein Mensch, bis ich dreißig war. Seitdem ist mein Aussehen gleich geblieben. Und das wird es auch weiterhin, solange ich lebe.“
Das galt für die meisten übernatürlichen Rassen. Die Nefas allerdings alterten bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr, bevor sie stehen blieben. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihre grausigen Taten ihre Seelen verrotten ließen, und verrottete Seelen führten zu verrotteten Leibern.
Koldo war froh, dass die Eigenschaften der Gesandten bei ihm stärker durchkamen als die der Nefas, sodass er einen normalen Haarwuchs hatte und ihm nicht dieser schwarze Nebel aus der Haut sickerte.
„Also … werd ich eines Tages eine nette alte Dame sein, während du immer nochaussiehst wie ein junger, kraftstrotzender Wikinger?“
Ein Wikinger? So sah sie ihn?
Und … was das Altern angeht, hat sie recht, wurde ihm klar. Über diese Tatsache hatte er nie nachgedacht, weil er sich nie an der Seite eines Menschen gesehen hatte. Doch es gab einen Weg, diesen Ausgang zu vermeiden. Zacharel hatte sein Leben mit dem von Annabelle verbunden und so dafür gesorgt, dass sie nicht weiter alterte. Wenn allerdings einer von beiden starb, würde der andere augenblicklich folgen. Eine solche Verbindung konnte Koldo jedoch mit Nicola nicht eingehen. Dazu müsste er ihr einen Teil seiner verdorbenen Seele geben, und das würde er niemals tun.
Und warum sollte er sich überhaupt mit seinen Gefühlen zu dem Thema auseinandersetzen? Sie war an einem anderen Mann interessiert.
„Ja“, lautete seine einzige Erwiderung, und dabei beließ er es. „Gibt es noch etwas, was du wissen möchtest?“
Scharf atmete Nicola ein, als die Nadel über eine empfindliche Sehne fuhr. „Wirst du das auch mit Laila machen?“
„Wenn sie mich lässt.“ Er lehnte sich zurück und begutachtete die Zeilen. Die Zahlenreihen begannen an ihren Ellbogen und wanden sich bis zu
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