Sinuhe der Ägypter
Gerechtigkeit. Mein Fall ist folgender: Ich ließ mir ein Haus an der Straße bauen; aber der Baumeister hat mich betrogen, da das Haus einstürzte und dabei einen Vorübergehenden erschlug. Jetzt haben mich die Hinterbliebenen dieses Straßenwanderers verklagt und fordern Schadenersatz. Was soll ich tun?«
Kaptah überlegte eine Weile, worauf er sprach: »Das ist eine verwickeltere Sache, und sie erheischt eine gründliche Prüfung. Meiner Ansicht nach ist dies eher ein Fall für die Götter als für die Menschen. Was aber hat das Gesetz dazu zu sagen?«
Die Rechtsgelehrten traten vor und lasen von der Säule das Gesetz ab und erläuterten es folgendermaßen: »Wenn ein Haus wegen Fahrlässigkeit seines Erbauers einstürzt und dabei den Besitzer erschlägt, soll auch der Erbauer den Tod erleiden. Tötet das Haus jedoch beim Einsturz den Sohn des Besitzers, so soll der Sohn des Erbauers getötet werden. Mehr als das sagt das Gesetz nicht; wir aber deuten es so, daß der Baumeister für das, was beim Einsturz des Hauses vernichtet wird, in der Weise haftet, daß ein entsprechender Teil seines Eigentums vernichtet wird.«
Kaptah sprach: »Ich wußte nicht, daß es hier so betrügerische Baumeister gibt, und ich werde mich in Zukunft vor ihnen in acht nehmen. Nach dem Gesetz aber ist dieser Fall eindeutig. Die Angehörigen des erschlagenen Straßenwanderers sollen sich beim Haus des Baumeisters in den Hinterhalt legen und den ersten besten Vorüberkommenden ermorden, dann ist das Gesetz erfüllt. Wenn sie dies aber tun, müssen sie auch für die Folgen einstehen, falls die Angehörigen des von ihnen umgebrachten Straßenwanderers sie des Mordes anklagen. Die größte Schuld aber liegt meines Erachtens bei dem Mann, der an einem einstürzenden Haus vorübergeht; denn das tut kein vernünftiger Mensch, es sei denn, die Götter hätten es bestimmt. Deshalb enthebe ich den Baumeister jeglicher Verantwortung und erkläre diesen Mann, der bei mir Gerechtigkeit sucht, für einen Narren, weil er den Baumeister nicht bei der Arbeit überwacht hat. Dieser war in seinem vollen Recht, ihn zu betrügen; denn Narren müssen betrogen werden, um durch Erfahrung klug zu werden. So ist es gewesen und so wird es stets bleiben.«
Wiederum pries das Volk die Weisheit des Königs, und der Kläger zog sich enttäuscht zurück. Nun trat ein beleibter Kaufmann in einem kostbaren Gewand vor den Thron. Er schilderte seinen Fall folgendermaßen: »Vor drei Tagen begab ich mich zum Tor der Ischtar, wo sich in der Nacht des Frühlingsfestes die armen Mädchen der Stadt versammelt hatten, um der Göttin vorschriftsmäßig ihre Jungfräulichkeit zu opfern und auf diese Weise Geld für ihre Mitgift zu beschaffen. Unter ihnen befand sich auch ein Mädchen, das mir außerordentlich gefiel. Nachdem ich eine Weile mit ihr gefeilscht hatte, einigten wir uns, und ich gab ihr einen Haufen Silber. Aber wie ich zu der Sache übergehen wollte, deretwegen ich gekommen war, befielen mich auf einmal so schwere Leibschmerzen, daß ich abseits gehen mußte, um mich zu erleichtern. Bei meiner Rückkehr war das Mädchen indes bereits mit einem anderen Mann einig geworden, hatte auch von ihm Silber erhalten und mit ihm das getan, weswegen ich zum Tor der Ischtar gekommen war. Allerdings erbot sie sich, nun auch mit mir Wollust zu treiben, ich aber weigerte mich, weil sie nicht mehr eine Jungfrau war, und verlangte mein Silber zurück, was sie mir indes ausschlug. Deshalb suche ich Gerechtigkeit beim König; denn ist mir nicht großes Unrecht widerfahren, indem ich mein Silber verlor, ohne dafür etwas erhalten zu haben? Wenn ich nämlich einen Krug eingehandelt habe, gehört er mir, bis ich ihn selbst zerschlage; der Verkäufer aber besitzt nicht das Recht, ihn zu zertrümmern und mir dann die Scherben anzubieten.«
Als Kaptah dies vernahm, erhob er sich zornig vom Thron der Gerechtigkeit, hieb mit der Geißel in die Luft und rief: »Wahrlich, noch nie im Leben sah ich so viel Torheit wie in dieser Stadt, und ich kann nichts anderes glauben, als daß dieser alte Bock mich zum besten hält. Das Mädchen handelte ganz richtig, einen anderen zu nehmen, nachdem dieser Dummkopf das, was er haben wollte, sich nicht anzueignen vermochte. Ebenso war es gut und edel von ihr gehandelt, diesen Mann entschädigen zu wollen, obwohl er es keineswegs verdiente. Er hätte daher dem Mädchen und dem anderen Mann dankbar sein sollen, weil sie zu seiner Bequemlichkeit gemeinsam das
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