Sinuhe der Ägypter
umzubringen. Wir machen uns daher am besten sofort auf den Weg. Sollten aber die Ruderer versuchen, die königlichen Wächter auf uns zu hetzen, so bezweifle ich doch, daß jemand ihrer Erzählung Glauben schenken wird; denn sie werden von Dämonen, die in Leichenurnen toben, und von Wundern berichten, und dann werden die Krieger und Richter sie an die Tempelpriester weisen, ohne erst ihren Bericht nachzuprüfen.«
Der Abend nahte, und wir mußten uns beeilen; denn Kaptah hatte ohne Zweifel recht mit der Annahme, die Ruderer könnten ihre Furcht überwinden und wieder erscheinen, um ihr Boot zurückzuholen; und ihrer waren zehn starke Kerle gegen uns drei. Deshalb rieben wir uns mit dem Öl der Ruderer ein, beschmutzten uns Kleider und Gesicht mit Lehm, verteilten den Rest meines Goldes und Silbers und versteckten diesen in unseren Gürteln und Gewändern. Meinen Arztkasten, auf den ich nicht verzichten wollte, wickelten wir in die Teppiche ein und luden ihn Kaptah ungeachtet seiner Proteste auf die Schultern. Dann wateten wir an Land und ließen das Boot im Röhricht treiben. Wir hinterließen etwas Eßwaren und mehrere Weinkrüge, weil Kaptah meinte, die Ruderer würden sich damit zufriedengeben und trinken und unsere Verfolgung nicht aufnehmen. Wenn sie dann, aus dem Rausch erwacht, die Richter aufsuchten, um über uns Bericht zu erstatten, würde jeder der zehn Leute die Sache verschieden darstellen, so daß die Richter sie mit Stöcken verjagen würden. Das war meine Hoffnung.
Wir traten unsere Wanderung an und gelangten in bebaute Gegenden, wo wir einen Karawanenweg entdeckten, dem wir die ganze Nacht folgten, obwohl Kaptah murrte und den Augenblick seiner Geburt verfluchte, da ihm das schwere Bündel den Nacken beugte. Am Morgen gelangten wir in ein Dorf, dessen Bewohner uns freundlich empfingen und höchlich achteten, weil wir ohne Furcht vor den Teufeln durch die Nacht gewandert waren. Sie boten uns in Milch gekochte Grütze an, verkauften uns zwei Esel und feierten ein Freudenfest bei unserem Abzug; denn sie waren einfache Leute, die monatelang kein gestempeltes Gold gesehen hatten, sondern ihre Steuern in Getreide und Vieh entrichteten, wie auch zusammen mit ihrem Vieh und den übrigen Haustieren in Lehmhütten wohnten.
So wanderten wir Tag für Tag auf den Straßen Babyloniens, begegneten Kaufleuten und wichen den Sänften der Vornehmen unter Verbeugungen am Straßenrand aus. Die Sonne verbrannte unsere Haut, unsere Kleider hingen in Fetzen, wir gewöhnten uns daran, auf Dreschböden aus Lehm vor dem Volke aufzutreten. Ich goß Öl in Wasser und prophezeite ihnen gute Tage und reichliche Ernten und versprach ihnen Söhne und reiche Bräute; denn ich empfand Mitleid mit ihrer Armut und wollte ihnen nichts Schlechtes weissagen. Sie schenkten mir Glauben und freuten sich über alle Maßen. Hätte ich mich an die Wahrheit halten wollen, so hätte ich ihnen böse Steuereintreiber, Stockhiebe, betrügerische Richter, Hunger in schlechten Jahren, Fieberkrankheiten zur Zeit der Überschwemmung, Heuschrecken und Schnaken, brennende Dürre und faules Wasser im Sommer, harte Plackerei und darauffolgenden Tod prophezeit. Denn das war ihr Leben. Kaptah erzählte ihnen Märchen von Zauberern und Prinzessinnen und fremden Ländern, wo die Menschen den Kopf unter dem Arm tragen und sich einmal im Jahr in Wölfe verwandeln; sie glaubten an seine Märchen, achteten ihn hoch und mästeten ihn dick. Und Minea tanzte auf dem harten Dreschboden vor ihnen; denn sie mußte alle Tage tanzen, um ihre Kunstfertigkeit für den Gott zu erhalten; und sie staunten über ihren Tanz und sagten: »So etwas haben wir noch nie gesehen!«
Diese Wanderung war für mich von großem Nutzen, weil ich einsehen lernte: Wenn die Reichen und Vornehmen aller Länder und Großstädte sich im Grunde gleichen und dieselben Gedanken hegen, so sind auch die Armen aller Länder gleich und denken in derselben Weise, wenn auch ihre Sitten verschieden sind und ihre Götter andere Namen tragen. Ich lernte erkennen, daß die Armen barmherziger sind als die Reichen. Denn da sie uns für arme Leute hielten, schenkten sie uns aus gutem Herzen Grütze und getrocknete Fische, ohne ein Gegengeschenk dafür zu erwarten, während die Reichen die Armen mit Stöcken von ihren Türen wegjagten und sie verachteten. Ich lernte einsehen, daß auch die Armen Freud und Leid, Sehnsucht und Tod empfinden und daß die Kinder der Armen auf gleiche Weise das Licht der Welt
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