Sirenenlied
Vater.«
Bevor Josh diesen Abschiedssatz begreifen konnte, gab die Sirene ihn frei, und einen Herzschlag später war da nur noch das Meer, das Josh umarmte und mit sich reißen wollte.
8
Gleichgewicht
Nachdem Josh seine Erzählung beendet hatte, saßen die beiden Männer schweigend am Tisch. Draußen war die Dämmerung endgültig der Nacht gewichen, so dass die einzelne Lampe bei der Küchenzeile kaum gegen die Dunkelheit ankam. Mehr als sonst glaubte Josh, das Tosen des Meeres zu hören, das sich an der Steilklippe aufrieb. Das bisher so angenehme Geräusch verursachte ihm nun Unbehagen. Finebird schien sich ähnlich unwohl zu fühlen, denn er stand mit einem Ächzen auf und holte Streichhölzer, um die Kerzen auf dem Tisch anzuzünden. Blinzelnd blickte Josh in die Flammen, die in der Zugluft tanzten, und fragte sich, ob wohl jedes Element seine eigenen Geister barg.
Finebird leerte sein Glas, und es sah ganz danach aus, als hätte er sich zu gern noch einen Whisky eingeschenkt. Stattdessen konzentrierte er sich auf Josh, der in sich zusammengesunken dasaß, den Kopf zwischen seinen Händen gestützt.
»Wenn ich das alles recht verstanden habe«, sagte Finebird schließlich, »dann liegt das Problem darin, dass du dir damals nur allzu bereitwillig den Stempel der Sirene hast aufdrücken lassen, bis du erfahren hast, dass sie auch deinem Vater begegnet ist. Ihr Galbraith-Männer scheint ja ganz nach dem Geschmack der Sirenen zu sein. Nichts für ungut«, fügte er sogleich beschwichtigend hinzu, als Josh wütend die Augenbrauen zusammenzog.
»Ich habe diese Sirenengeschichten immer für Märchen gehalten, selbst als mein Vater verschwunden ist und das Getuschel über ihn bis zu mir als Siebenjähriger durchgedrungen ist«, verteidigte Josh sich einen Ton zu laut, schließlich hatte er sich diese Dummheit bereits selbst unzählige Male zum Vorwurf gemacht. »Meine Mutter hatte nie etwas mit diesen Geschichten anfangen können, und ich bin da wohl ihrem Beispiel gefolgt, bis dann plötzlich eine Sirene vor mir aus dem Meer aufgestiegen ist. Sie war vollkommen überwältigend, da war einfach kein Platz mehr für Unglauben. Kein Mann hätte sich ihr entziehen können, das schwöre ich. Selbst wenn es mir also gelungen wäre, zu begreifen, warum mein Vater verschwunden ist, hätte ich mich vermutlich trotzdem von ihr kennzeichnen lassen... oder was auch immer ihr Gesang bei mir bewirkt hat. Dass dieser Wassergeist oder ein anderer seiner Art meinen Vater geraubt hat, ist mir erst später klargeworden, als sich die Frühjahrsstürme endgültig gelegt hatten und mein Verstand zurückkehrte.«
»Und dann?«
»Was soll ich sagen? Es ist schwer, einen Rachefeldzug gegen jemanden zu führen, der außer Reichweite ist. Sie hat ihr Versprechen nämlich eingelöst und sich die nächsten Jahre ferngehalten. Was allerdings nichts daran änderte,
dass die Frühjahrsstürme mich damals fast in den Wahnsinn trieben. Mein Körper fühlte sich wie ein Blitzableiter für die ganze Energie an, die sie mit sich brachten.«
»Nicht Energie, sondern Magie«, unterbrach Finebird ihn, woraufhin Josh die Augen verdrehte.
»Meinetwegen. Jedenfalls hat mir diese Magie das Leben nicht gerade erleichtert. Da stand ich also wochenlang bei Sturm und Regen mit geballten Fäusten an der schäumenden Wassernaht und hoffte darauf, dass gleich ein schlanker Leib auftaucht. Ein Teil von mir wollte ihr Gewalt antun und die Wahrheit über das Schicksal meines Vaters herauspressen, ein anderer Teil - den ich im Lauf der Jahre wirklich zu hassen gelernt habe - sehnte sich nach ihrer Berührung.«
Josh machte eine Pause, denn dieses Geständnis fiel ihm von allen am schwersten. Einzugestehen, dass es nicht mehr als einen Kuss brauchte, damit er alles andere vergaß... über all die Jahre hinweg.
Finebird konnte seine Gefühle offenbar erraten. »Sei nicht so streng mit dir.«
Das Glas drehte sich wie von allein zwischen Joshs Händen, und der zirkulierende Inhalt verursachte ihm eine leichte Übelkeit. Oder vielmehr der Inhalt, der bereits in seinem Magen seine Runden drehte.
»Diese verfluchte Sirenenmagie hat mir nicht nur meinen Vater gestohlen, sondern mir auch den Spaß an den Frauen versaut, weil die Intensität ihrer Küsse nicht einmal annähernd an die der Sirene heranreicht.« Der Frust, der in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. »Frauen haben einen sechsten Sinn dafür, wenn man nicht wirklich bei der Sache ist. Und
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