Sirenenlied
»Wo willst du hin, ohne dich bei mir abzumelden, mein Lieber?«
»Na, raus«, erwiderte Josh mit dieser genervten Art, die er seit neuestem jederzeit an den Tag legte. Lässig schüttelte er ihren Griff ab und sah sie an, als könne sie nichts, aber wirklich auch gar nichts tun, das ihn beeindrucken würde.
»Raus? Bei diesem Sturm? Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist.«
Josh zuckte nur mit den Schultern.
»Du ziehst jetzt sofort wieder deine Jacke aus. Wenn dir langweilig ist, dann kannst du mir ja in der Küche zur Hand gehen. Das ist vielleicht nicht so unterhaltsam, wie sich vom Wind umpusten zu lassen, aber immerhin.«
Josh sah sie mit einer provozierenden Gleichgültigkeit an, bei der sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Nur mit Mühe konnte Enid das Verlangen zügeln, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Wann genau war er ihr entglitten? Es war noch gar nicht lange her, da war er noch ihr süßer Sohn gewesen, ihr Ein und Alles. Die letzten zwei Jahre hatten ihn in die Länge gezogen und braunrote Haare auf seine Wangen und andere Körperstellen gezaubert. Die ehemals weichen Gesichtszüge waren praktisch über Nacht so kantig geworden, dass man sich daran schneiden konnte, und auch seiner Stimme wohnte nichts Kindliches mehr inne. Trotzdem war er ihr Junge gewesen, bis... ja, bis zu diesem
verfluchten Frühjahr. Nun blickte sie ein Fremder aus den vertrauten Augen an, jemand, der kein Junge mehr war, aber auch noch kein Mann.
»Josh, hör doch...«, setzte Enid vorsichtig an.
Aber Josh hörte nicht. Vielmehr wendete er sich wieder der Tür zu. »Ich dreh nur eine kleine Runde, Mom. Sonst fällt mir die Decke auf den Kopf.«
Im nächsten Moment zog er die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sie mit ausgestreckter Hand zurück.
Der Sturm war nicht mehr ganz so kräftig wie in den Tagen zuvor, aber Josh musste trotzdem mit zusammengebissenen Zähnen gegen ihn ankämpfen. Wie von Zauberhand fuhr der Wind in die eng zugezogene Kapuze, prallte wie ein Mann gegen seine Schultern und machte es ihm schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Josh gegen den Sturm, hieß das Spiel. Und er hatte vor, zu gewinnen. Ganz gleich, wie oft er befürchtete, umgeweht zu werden, er gab nicht auf. In ihm tobte nämlich ein viel größerer Sturm und durchflutete ihn mit einer elektrisierenden Energie, die er dringend loswerden musste. Woher die Unruhe stammte, konnte er nicht sagen, aber sie quälte ihn seit einigen Wochen unablässig.
Natürlich gab es eine andere Möglichkeit, um dieses Kribbeln loszuwerden. Eine weitaus angenehmere noch dazu. Allerdings machte seine Mom ihm mit ihrer Anhänglichkeit da einen Strich durch die Rechnung. Kaum schloss er in ihrer kleinen Wohnung mal eine Tür hinter sich, stand sie auch schon davor, klopfte und fragte, was er gerade treibe. Das letzte Mal war Josh vor lauter Frust kurz davor gewesen, es ihr zu sagen, bloß, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ. Dann hatte er sich jedoch
dazu entschlossen, es mit einem Spaziergang zu versuchen.
Obwohl die Dämmerung erst in gut einer Stunde einbrechen würde, waren die meisten Häuser bereits erleuchtet. Bei diesem Wetter war niemand draußen, der es nicht musste. Die Bewohner von Cragganmore Island hatten sich vor dem Sturm in Sicherheit gebracht und die Vorhänge vor die klappernden Fenster gezogen. Ganz allein unter lauter Menschen, dachte Josh, wobei ihn ein Schauer überkam. Auf der einen Seite verspürte er den heftigen Wunsch, in einem Raum voller Menschen zu sitzen und sich an ihrem Lachen und Gerede zu wärmen. Auf der anderen Seite wohnte der Einsamkeit eine schmerzliche Süße inne, die er bislang nicht gekannt hatte.
Erfüllt von dieser neuen Empfindung, ließ er den Schutz der Häuser hinter sich und lief querfeldein auf die Küste zu. Hier blies der Sturm am heftigsten und stahl einem die Atemluft direkt von den Lippen. Er riss ihm die Kapuze vom Kopf und fuhr ihm durchs Haar. Das Meer war ein wütendes, dunkles Ungeheuer, das unablässig nach Cragganmores Ufern schnappte, getrieben von dem Wunsch, sie seinem Reich einzuverleiben. All das schürte in Josh keine Furcht. Vielmehr fühlte er sich wie ein unbezwingbarer Abenteurer, während er über die Gesteinsbrocken der abfallenden Brandung kletterte, bis die Gischt ihm über die rot gefrorenen Wangen leckte. Gut eine Armlänge von ihm entfernt rollten die Wellen aus.
Obwohl der Wind kalt war, verging Josh fast vor Hitze. Sein Herz schlug mächtig in seiner
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