Sirenenlied
Brust, und er konnte sich nicht daran erinnern, sich je zuvor derart lebendig gefühlt zu haben.
Fasziniert von der Naturgewalt und der Intensität der eigenen Wahrnehmung, kauerte er neben einem der größeren Findlinge und blickte auf das aufgebrachte Wasser. Draußen auf dem Meer ging ein Regenschauer nieder, der von seinem Platz aussah, als würde schwarze Farbe vom Himmel herunterrinnen. Dadurch wäre ihm beinahe der helle Umriss entgangen, der mühelos durch das Wasser glitt, als könne der mächtige Sog des Meeres ihm nichts anhaben. Gerade als Josh mit einem Aufschrei auf den Lippen begriff, dass jemand auf ihn zuschwamm, durchbrach sie auch schon die Wasseroberfläche.
Eine Sirene.
Josh wusste es in dem Moment, in dem er in ihre wunderschönen Augen blickte. Menschlich geschnitten, aber in ihnen wohnte nichts Menschliches inne, sondern nur die Tiefe der See. Ein wahr gewordener Mythos, an dem er keine Sekunde zweifelte.
Unberührt vom Wellengang, richtete die Sirene sich auf und schritt so weit auf Josh zu, wie das Wasser reichte. An der Grenze zum Land blieb sie stehen und lieferte sich seinem Blick aus. Langes Haar, das im Wind tanzte und von einem Farbenspiel war, für das er keine Worte fand, denn sämtliche Schattierungen der Umgebung spiegelten sich darin. Ihre Haut hingegen war so hell und schimmernd wie Perlmutt, von einer unnatürlichen Perfektion. Ihr Körper hätte einer jungen Frau gehören können, mit schlanken Gliedern und einer Brust, die vermutlich genau in seine Hand passen würde, wie Josh mit weichen Knien dachte.
Die Sirene lächelte, als habe sie seine Gedanken erraten. Dann setzte sie sich mit einer fließenden Bewegung auf den Findling, ließ jedoch einen ungewöhnlich schmalen
Fuß im Wellenspiel. Ihr Gesicht war oval, mit einer schmalen Nase und rosafarbenen Lippen. Die Ohren verschwanden in dem Schleier ihrer Haare. Scheinbar sollte nichts von ihren eindrucksvollen Augen ablenken.
Als die Mundwinkel der Sirene zuckten, hob Josh instinktiv die Hand.
»Nein, bitte sing nicht. Ich kann dir auch jetzt schon kaum widerstehen. Gib mir noch einen Moment, in dem ich dich einfach nur anschauen kann, bevor du mich ins Wasser lockst.«
Die Mundwinkel der Sirene zuckten noch ein Stück weiter hinauf - zu einem Lächeln, wie Josh feststellte.
»Ich habe nicht vor, mein Lied für dich erklingen zu lassen, kleiner Mann. Noch nicht. Ich bin gekommen, weil ich nicht widerstehen konnte. Etwas ist in dir erwacht. Aber es wird noch eine ganze Zeit lang dauern, bis es so weit gediehen ist, dass wir beide darauf bauen können.«
Verständnislos schüttelte Josh den Kopf. »Wovon redest du?«
»Von deiner inneren Festigkeit natürlich, die dich das eine Wort finden lässt, das eine, das es braucht, wenn man einer Sirene in ihr Reich folgen will. Was auch immer einen Mann ausmacht, bei dir ist es gerade erst erwacht. Dich jetzt schon zu nehmen, wäre viel zu früh, obwohl es sehr verlockend ist. Ich habe so lange auf dich gewartet, ein paar Jahre mehr werde ich mich noch gedulden können.«
Die Sirene verstummte für einen Augenblick, saß einfach bloß da. Dann stimmte sie einen hellen Ton an, der ein Seufzen sein mochte und direkt in Joshs schnell schlagendes Herz fuhr, um sich dort zu verankern. Langsam, als wolle sie ihn nicht verschrecken, streckte sie einen Arm
nach ihm aus. Josh sah, dass ihre Fingernägel von einem durchschimmernden Blau waren und sich zwischen den Fingern Schwimmhäute spannten. Eine feine rosafarbene Membran. Ihre Hand legte sich um seinen Nacken, und zu seiner Überraschung war sie alles andere als kalt. Sie schien von derselben Glut überzogen zu sein, die in Josh brannte und die allein durch die Berührung um ein unerträgliches Maß geschürt wurde.
Josh keuchte auf, doch der Wind riss das Geräusch mit sich.
»Keine Angst«, flüsterte die Sirene mit ihrer betörenden Stimme. »Nur einen Kuss, mehr wünsche ich mir heute nicht von dir.«
Ihre Lippen waren warm und mit einer Spur von Meerwasser überzogen.
Unwillkürlich schloss Josh die Augen und vergaß sowohl seine Angst als auch das überwältigende Verlangen, das der Anblick der Sirene in ihm heraufbeschworen hatte. Wie von allein öffneten sich seine Lippen unter dem Druck der ihren, und als sie ihm einen Kuss stahl, fühlte es sich an, als würde er in samtige Schwärze sinken. Doch im nächsten Augenblick riss er die Sirene vor lauter Lust an sich. Er spürte ihr seidiges Haar zwischen seinen
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