Sirenenlied
hell beleuchteten Bildern hinüber. Josh sah sich umringt von allen möglichen Stimmungen des Meeres: vom Wind gekräuselte Wellenkämme, von der Sonne zum Glitzern gebrachte, langgezogene Ausläufer an einem schönen Tag, überschäumend wild bis bedrohlich schwarze Bögen. Es waren so viele verschiedene Gesichter der See, dass Josh schwindelig wurde und er dankbar für Finebirds unnachgiebigen Griff war.
»Es ist, wie ich sagte: Das Wirken der Sirenen gleicht dem des Meeres. Nur weil ich in seinem Bann stehe, seit ich meinen Fuß auf Cragganmore gesetzt habe, heißt das noch lange nicht, dass ich deinen Tod gutheißen würde. Es bedeutet nur, dass es keine einfache Lösung gibt. Aber das hast du ja bereits selbst herausgefunden. Du willst der Sirene gegenübertreten, weil sie oder eine ihrer Schwestern
dir deinen Vater genommen hat? Das ist nur allzu gut verständlich. Nur befürchtest du, dich in ihrem Gesang zu verlieren. Deshalb verweigerst du dich ihrem Ruf.«
»Herzlichen Dank für die Analyse, aber so weit bin ich selbst schon gekommen«, erwiderte Josh gereizt. »Ich weiß nicht, was ich ihr entgegensetzen soll, schließlich verfüge ich im Gegensatz zu ihr über keinerlei Magie.«
Der Maler rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das würde sie vermutlich anders sehen. Darum will sie dich ja«, dachte er laut nach. »Eine Idee, wie du aus diesem Schlamassel herauskommst, ist dir bislang also wirklich nicht gekommen? Das ist doch ansonsten deine Spezialität: Lösungen zu finden und umzusetzen.«
»Bin mir nicht sicher, aber vielleicht habe ich tatsächlich was... Eileen Rutherford hat mir heute Morgen einen Besuch abgestattet, und da war mir einen Augenblick so, als wäre die Lösung zum Greifen nah.«
Wie auf Befehl fuhren Finebirds wild wuchernde Augenbrauen zusammen, und er verstärkte den Griff um Joshs Arm, bis der sich ihm entwand. »Sorry, aber den brauche ich noch.« Mit einem unterdrückten Stöhnen rieb Josh die Stelle, wo sich Finebirds Finger in sein Fleisch gegraben hatten.
»Nun rück schon raus mit der Sprache, Junge.«
»Ist ja gut. Eileen scheint da so einen Verdacht zu haben, was mit mir los ist. Jedenfalls sprach sie davon, dass Cragganmores Männer dem Land gehören und sie mir Halt geben würde, wenn die Sirene zu mir singt. Das hat etwas in mir bewegt. Es muss doch eine Art Gegengewicht zur Magie des Meeres geben, oder?«
»Eileen Rutherford.« Finebird schien den Namen im Mund hin und her zu schieben. »Viele Locken, richtig?
Ein erdverbundenes Geschöpf, wenn ich den Namen richtig zuordne.«
Josh hatte schon eine Bemerkung auf der Zunge, dass Eileen tatsächlich Gewichte mitbrachte, die der Schwerkraft gutzutun gaben, aber er verkniff es sich.
Unvermittelt ließ Finebird die Schultern hängen, und plötzlich sah er so alt aus, wie er war. Und erschöpft. »Lassen wir es für heute dabei bewenden. Ich muss über diese Sache mit dem Gleichgewicht der Magie nachdenken. Darauf scheint es mir irgendwie anzukommen. Da drüben im Schrank sind Decken, damit kannst du es dir vor dem Ofen gemütlich machen. Morgen sehen wir weiter.«
Vom Bett des alten Malers erklang schon lange Zeit sein gleichmäßig gehender Atem, während Josh immer noch wach dalag und auf den Wind hörte, der das Cottage umtoste. Dazu war nun Regen gekommen, der heftig gegen die kleinen Fenster prasselte. Die Geräusche von draußen spielten ihm Fetzen von Gesang und unverständlichen Worten zu, die seine Nerven zum Vibrieren brachten. Einige Male glaubte er sogar, seinen Namen zu hören, als wäre er Teil des Liedes. Nervös leckte Josh sich über die Lippen, und sein Magen drehte sich um, als er eine Spur von Salz wahrnahm.
Sie würden die Lösung für sein Problem schnell finden müssen, soviel stand fest. Nicht mehr lange und sie würde an Cragganmores Küste zurückkehren.
Unruhig wälzte Josh sich auf seinem Deckenlager umher.
Die Morgendämmerung brach bereits an, und er hatte noch kein Auge zugetan. Vielleicht war es ja auch besser so, denn auf den Besuch, der sich in seine Träume schlich,
wollte er lieber verzichten. Während der Aufruhr in seinem Inneren zunahm, streifte sein Blick die Leinwände, die sich im ersten fahlen Licht des Tages abzeichneten. Wie vom Schlag getroffen, setzte er sich auf, als er einen Schemen zwischen den Bildern stehen sah. Mit einem Satz war er auf den Beinen und hielt auf die Stelle zu, doch als er dort ankam, war der Schemen verschwunden. Nur ein leises Plätschern
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