Sirenenlied
auf die dunkelblau schimmernden Pfützen zugehen, doch Josh hielt sie am Arm zurück.
»Mag sein, dass es ein Trick ist. Aber keiner, mit dem du in Berührung kommen solltest. Vertrau mir.«
Während das Tosen des Sturms ihnen in den Ohren dröhnte, sahen sie zu, wie der Steinboden des Cottage unter Wasser verschwand. Finebird rettete sich mit einem großen Schritt auf eine Sitzbank, Eileen wich mit Josh zurück, um der vordringenden Flut zu entgehen. Sie blickte über die Schulter zur Tür hinaus ins Freie, wo es mittlerweile in Strömen regnete. Nichts war mehr zu erkennen, nur herabstürzendes Nass, dicht wie bei einem Wasserfall.
Dann schlug die Tür zu - und zwar mit einem derart lauten Knall, der keinen Zweifel daran ließ, dass dieser Ausgang für die drei Menschen nicht mehr existierte.
Panisch blickte Eileen nach unten, in der festen Überzeugung, gleich in Bodenlosigkeit zu versinken. Bevor das Wasser tatsächlich ihre Füße berührte, hielt es jedoch wie von Zauberhand an. Das Innere des Cottage wirkte mit einem Schlag um ein Vielfaches größer, als wären die Wände
zur Seite gewichen. Sein Grund war nun ein stiller, dunkler See, dessen Anblick sie innehalten ließ.
Für einen Herzschlag war es, als würde die Zeit angehalten, dann breiteten sich auf der Mitte feine konzentrische Ringe aus.
Etwas hatte den Aufstieg aus den Tiefen des Meeres begonnen.
12
Meeresschaum
Die Entladungen von Energie, die ihrer Ankunft vorausgingen, waren von solch einer Intensität, dass Joshs Knie kurz nachgaben. Dabei bekam er kaum mit, wie Eileen seine Hand urplötzlich und mit einem Aufschrei losließ.
Die Sirene kehrte zurück, und dieses Mal würde es keinen Schutzwall mehr zwischen ihnen geben.
Mit jedem neuen Ring, der sich auf dem gefluteten Boden auftat, verstärkte sich das Kribbeln auf Joshs Haut, leitete die Magie der Sirene weiter. Sie war so empfindsam, als bräuchte es nicht mehr als einen gehauchten Kuss, um sie zu entflammen. Fast sehnte er sich nach dem kühlen Wasser zu seinen Füßen, auch wenn er befürchtete, dass es keineswegs die erhoffte Linderung bringen würde.
Gefesselt starrte Josh auf den See, ohne einen einzigen Gedanken an Flucht zu verschwenden. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, den Blick vom Wasser loszureißen, so begriff er doch instinktiv, dass kein Weg aus dem Cottage herausführte - es sei denn durch das dunkle Wasser. In ihm
kämpften zwei Seelen miteinander: Die eine wollte sich mit Haut und Haaren den Versprechungen der Sirene überlassen, die andere, deutlich schwächere, erinnerte ihn daran, dass er nicht nur so etwas wie einen eigenen Willen besaß, sondern auch Verantwortung anderen Menschen gegenüber trug, die in dieser Sache mit drinhingen - angefangen bei seinem verschollenen Vater und am entschiedensten Eileen, die solch ein Risiko für ihn einging.
Obwohl seine Halsmuskeln ihm den Dienst verweigern wollten, denn er sollte nur auf das Zentrum der Kreise starren, wendete Josh sich der schreckensstarren jungen Frau an seiner Seite zu, die ihre Kehle mit der Hand umschlossen hielt. Trotz der enormen Anspannung, unter der Eileen stand, war da unübersehbar ein trotziger Zug auf ihrem Gesicht. Obwohl sich die gerade noch feinen Ringe inzwischen in einen brodelnden Kessel verwandelt hatten, musste Josh trotzdem grinsen. Eileen Rutherford mochte vor Angst zwar fast umkippen, aber das würde sie nicht daran hindern, in die Schlacht zu ziehen.
»Eileen«, sagte Josh so leise, dass seine Stimme beinah im Geheul des Windes und der gegen das Haus schlagenden Regenfluten unterging. »Egal, wie ich mich gleich verhalten werde, wenn sie da ist, ich bin dir überaus dankbar für deine Hilfe... und für deine Dickköpfigkeit.«
Zunächst sah es danach aus, als wolle Eileen ihm eine Retourkutsche verpassen, doch dann nickte sie würdevoll. Behutsam griff Josh nach ihrer Hand. Die Berührung ließ sie zusammenfahren, dann erwiderte sie den Druck.
Eine Sekunde später bereute Josh diese Geste der Verbundenheit, denn in diesem Moment erhob sich aus dem Meeresschaum die Sirene. Mit einer geschmeidigen Bewegung richtete sie sich auf, ließ den Kopf in den Nacken
sinken, damit ihr Haar, das sie wie einen Mantel umschlang, zurückglitt. Bis zu den Hüften stand sie in dem aufgewühlten Wasser, und mit einem nicht zu deutenden Ausdruck widmete sie sich kurz ihrer Umgebung, bis ihr Blick endlich sein Ziel fand. Sofort hielt sie auf Josh zu, während sich die Distanz zwischen ihnen mit
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