Sirenenlied
dass er falschliegt?«
»Natürlich liegt er falsch. Und wissen Sie, warum? Weil ich mich nicht zweimal von einer Sirene reinlegen lasse. Es ist vollkommen egal, was sie behauptet - er gehört ihr nicht. Ich brenne regelrecht darauf, ihr das ins Gesicht zu sagen.«
In Eileens Stimme schwang eine solche Gewissheit mit, dass Finebird nur zustimmend zu nicken wagte. Der Wind, der mit voller Wucht gegen die Tür schlug, dass das alte Holz knarrte, schien da anderer Meinung zu sein.
Kaum fiel die Tür ins Schloss, ließ das Zerren in Eileens Brust ein wenig nach. Nicht genug, um sie in trügerische Sicherheit zu wiegen, aber ausreichend, dass sie sich sammeln konnte. Josh war geradewegs zur Küchenzeile geeilt und hantierte bereits mit der Kaffeekanne herum, während sie gemeinsam mit Finebird stehen geblieben war, um erst einmal einen Blick in den Raum zu werfen.
Eileen hatte schon einiges über den Maler gehört, der auf dem Festland den Ruf eines großartigen Künstlers genoss. Doch hier auf Cragganmore Island bekam niemand viel von dem Mann mit, der die letzten Jahrzehnte die moderne Malerei in Schottland maßgeblich mitgeprägt haben sollte. Finebird machte sich im Dorf rar, und selbst ins Peebles setzte er nur alle Jubeljahre einen Fuß, so dass er mittlerweile nicht einmal mehr Gegenstand des niemals ruhenden Dorfklatsches war. Worüber hätte man auch plaudern können, bot der alte Kerl doch einfach keinen Anlass? Als ihr Blick über die aufgestellten Leinwände streifte, hätte Eileen auf diese Frage sofort eine Antwort geben können: über seine Bilder! Ein paar ältere Arbeiten von Finebird waren im Lokalblatt abgedruckt gewesen
und hatten sie nicht sonderlich beeindruckt. Allerdings hatten sie nur wenig mit dem zu tun gehabt, was sie jetzt sah: wahrhaftiges Meer, überall um sie herum. Als sei er erst auf dieser Insel von der Muse geküsst worden. Oder in den Einfluss des Gesangs geraten, der von der See zugeweht wurde. Was Finebird hier geschaffen hatte, erzählte von einer Verbundenheit mit dem Meer, deren Tiefe kaum zu übertreffen war.
Von einem Moment zum anderen wurde Eileen kreidebleich. »Wir hätten nicht hierherkommen dürfen. Die Bilder... das ist nicht gut.«
Finebird, der sie mit seinen neugierig blitzenden Augen beobachtete, schüttelte den Kopf. »Wenn du mich fragst, ist es heute ganz egal, wo Josh sich auf der Insel aufhält - sie wird ihn finden. Sie will ihn, unbedingt. Man müsste ein Stein sein, um das nicht zu spüren. Die entscheidende Frage ist jedoch, was wir Josh mitgeben können, damit er ihr widerstehen kann. Was können wir in die Waagschale werfen, um die Sirene aus dem Gleichgewicht zu bringen?«
Angesichts des vielen Blaus um sie herum, zog sich Eileens Kehle schmerzhaft zusammen. Unwillkürlich glaubte sie kaltes, brackiges Wasser zu schmecken, das ihr jeden Augenblick in den Rachen dringen konnte, um sie am Atmen zu hindern. Wie würde wohl ihr Scheitern aussehen, wenn es ihr nicht gelang, sich gegen die Sirene durchzusetzen?
Eileen war sich nicht sicher, ob ihr vielleicht ein angsterfülltes Stöhnen über die Lippen gekommen war. Jedenfalls ließ Josh die Kaffeetassen, nach denen er sich gerade gereckt hatte, auf dem Regal stehen und kam zu ihr. Unschlüssig blieb er vor ihr stehen, dann nahm er ihre Hand.
Zuerst wollte Eileen zurückzuschrecken, aufgescheucht von der Furcht, erneut der Macht des Banns ausgeliefert zu sein. Doch die Barriere, auf die sie bei ihrem Kuss gestoßen war, tat sich nicht auf. Stattdessen bekam sie Joshs kräftige Finger zu spüren, deren tröstliche Wärme mehr als willkommen war.
Gegen diese Art der Berührung hat die Sirene also nichts einzuwenden, dachte Eileen. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, was echte Nähe bedeutet, da sie doch nur Verlangen und Sehnsucht kennt.
»Ich sollte mich besser von euch trennen«, sagte Josh. In seiner Stimme war keine Spur von Galgenhumor mehr auszumachen. Auch die Lust auf Neckereien schien ihm gründlich vergangen zu sein. »Wenn ihr in meiner Nähe seid, geratet ihr vielleicht in Gefahr. Wer weiß, wozu eifersüchtige Sirenen imstande sind. Du hast es ja bereits am eigenen Leib spüren müssen, Eileen.«
»Ja, und allein der Gedanke daran schnürt mir die Luft ab. Aber tief in mir drinnen weiß ich, dass ich mich nicht zu fürchten brauche. Alles, was dieser Wassergeist zu bieten hat, ist eine Illusion, solange du dich auf Land befindest.«
»Selbst wenn du damit Recht haben solltest,
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