Sirenenlied
heißt das noch lange nicht, dass einer von uns dazu in der Lage ist, sich ihrer Illusion zu entziehen. Kennst du denn nur eine Geschichte, in der die Sirene den Mann nicht ins Meer gelockt hat, wo er entweder umkam oder den Weg in ihr Reich gefunden hat?«
Auf diese Frage konnte Eileen nur stumm den Kopf schütteln.
»Vielleicht ist es ja an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen«, brachte Finebird sich ein.
Eileen hatte den alten Mann ganz vergessen, weil sie
vollkommen gefangen war von der Verbundenheit zwischen Josh und ihr. Jetzt blickte sie ihn erwartungsvoll an. Wer solche Bilder malt, hatte bestimmt mehr Ahnung von der Natur des Meeres und seiner Bewohner als irgendjemand sonst auf Cragganmore Island.
»Kann gut sein, dass ich falschliege, aber ich glaube, die meisten Männer hatten gar keine Zeit, sich auf den Ruf der Sirene vorzubereiten«, führte Finebird seine Überlegungen aus. »Kaum erreichte er sie, da leisteten sie ihm auch schon Folge. Wer einmal in den Bann ihres Gesangs geriet und aus welchen Gründen auch immer nicht zu ihr ging, wurde eher von Sehnsucht aufgefressen, als Widerstand zu planen. Wenn sich bei dir im Laufe der Jahre nicht solcher Abscheu wegen deines Vaters aufgebaut hätte, würdest du dem Sirenengesang doch auch gehorchen, Todesangst hin oder her - nicht wahr, Josh?«
Den Kussmund zu einer harten Linie verzogen, nickte Josh. »Ja, so ist es.«
»Sie meinen, Joshs Widerstand ist etwas, womit die Sirene nicht umzugehen weiß?« Eileen schöpfte wieder Hoffung.
»Mein Widerstand ist nichts, worauf ich wetten würde. Spätestens wenn sie mich berührt, wird der von meiner Libido abgeschaltet.« Für einen Witz klang diese Aussage eindeutig zu trocken.
Doch Finebird beachtete ihn nicht weiter, konzentrierte sich stattdessen auf Eileen. »Es muss der Sirene wie ein Regelbruch vorkommen, dass kein von der Sehnsucht aufgefressener Joshua Galbraith mit weit ausgebreiteten Armen am Ufer steht, obwohl sie sich so viel Mühe gegeben hat, ihm ihre bevorstehende Ankunft mitzuteilen. Wenn er sich ihr als junger Heißspund nicht freiwillig verschrieben
hätte, dann würde ihr Gesang ihn vermutlich nicht einmal mehr als streifen.«
»Moment, was meinen Sie mit verschrieben ?«, fuhr Eileen dazwischen. Bevor Josh ihr aus reinem Selbstschutz seine Hand entziehen konnte, hatte sie bereits kräftig zugepackt. »Was hast du getan, du elender Taugenichts?«
Josh verzog das Gesicht zu einer Grimasse, versuchte aber nicht länger, sich Eileens Griff zu entwinden. »Kein Grund zur Eifersucht. Ich war gerade einmal vierzehn Jahre alt, als sie sich mir genähert hat. Um ehrlich zu sein, hätte ich damals jede Frau genommen, die sich mir angeboten hätte.«
»Eine Sirene ist aber keine Frau!«, schnauzte Eileen ihn ungehalten an. »Nur einem Mann kann dieser offensichtliche Unterschied entgehen.«
Finebirds Räuspern brachte sie wieder zur Räson. »Aber, Eileen, du hast Recht, die Sirene ist ans Wasser gebunden. Sie ist davon abhängig, dass Josh ihrer Einladung ins Meer folgt. Ob nun freiwillig, das steht auf einem anderen Blatt.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« »Die Magie, die die Sirene an Land wirken kann, mag eine Illusion sein. Aber eine, die man auf keinen Fall unterschätzen darf. Du wirst Josh mit aller Kraft an Land halten müssen, wenn es erst einmal so weit ist, Mädchen. Du weißt, was man über das Meer sagt: Was ihm erst einmal gehört, das gibt es nicht freiwillig wieder heraus.«
»Heißt das, Sie können uns nicht helfen?«
Finebird runzelte die Stirn, als hätte er zwei unverständige Kinder vor sich. »Ich bin ein Mann, wenn auch ein alter. Niemand kann von mir erwarten, dass ich mich gegen eine Sirene, die Versuchung in Person, stelle. Vermutlich kann ich von Glück sprechen, wenn mich der aufziehende Sturm nicht mitreißt.«
Als habe der Wind nur auf dieses Stichwort gewartet, prallte er mit einem ohrenbetäubenden Heulen gegen die Haustür, so dass sie aufsprang. Mit ungeahnter Wucht drang er in das Cottage ein, entlockte Eileen einen spitzen Aufschrei und warf die vordersten Leinwände um. Gleich einem Dominospiel fielen die Bilder zu Boden und verloren ihre Form. Als würden sie sich im Zeitraffer auflösen, verschwammen ihre Umrisse und das auf ihnen dargestellte Meer verwandelte sich in echtes Wasser, das sich rasch ausbreitete.
»Das ist unmöglich«, brachte Eileen hervor. »Aus Bildern kann doch nicht einfach Wasser werden! Das ist ein Trick.« Sie wollte
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