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Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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knisternder Atmosphäre zu füllen schien. Mit jedem Schritt stieg sie auf, bis nur noch sanfte Wellen ihre Fesseln umtanzten.
    »Mein Liebling«, sagte sie mit ihrer betörenden Stimme, die jeden Zweifel und jeden Anflug von Zorn mühelos auslöschte. »Es gilt nur noch eine geringe Distanz zu überwinden, dann sind wir wieder vereint.«
    Sie ist da!, jubilierte es in Joshs Inneren. Endlich. Endlich hatte das Warten ein Ende. Er musste ihr entgegeneilen, sie an sich reißen, und dann würde nichts mehr sie von einander trennen können. Es sei denn, der Tod.
    Gerade noch im letzten Moment zog Josh seinen Fuß zurück, der ohne sein Zutun hatte ausschreiten wollen, hinein ins Wasser, von dem niemand sagen konnte, ob es seicht oder grundlos war.
    »Mir gefällt die Distanz zwischen uns eigentlich ganz gut«, brachte er mit heiserer Stimme hervor. Dabei wollte seine Zunge eigentlich ganz andere Worte wählen, die davon erzählten, dass er nichts lieber tun würde, als sich mit ihr zu vereinen.
    Wenn die Sirene sich an seiner Begrüßung stieß, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Ihre schmalen Finger strichen das Haar zurück, und sogar diese belanglose Bewegung führte Josh vor Augen, was für ein vollkommenes Geschöpf sie doch war. Kein Klischee wie Botticellis Venus, sondern vielschichtig, alle Formen von weiblicher Anziehungskraft gleichzeitig verkörpernd: hingebungsvoll
und mitreißend, Verführerin und Ergebene in einer Person. Wer eine Sirene in den Armen hielt, hielt alles, was ein Mann sich wünschen konnte.
    »Joshua Galbraith, was bist du nur für ein Sturkopf«, sagte sie sanft und strafend zugleich. »Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dich an unserer alten Stelle am Meer wiederzutreffen, muss ich gestehen, dass mir dieser Ort auch sehr gut gefällt. Das Meer, das ich hier gefunden habe, ist fast so lebendig wie das echte. Nicht viele Menschen sind dazu imstande, ein Element zu begreifen, dem sie von Natur aus nicht angehören.«
    Ein Stück von ihm entfernt seufzte Finebird, als habe er soeben das Kompliment seines Lebens erhalten. Dann richtete er sich auf und sagte mit einer Stimme, die vor Anstrengung zu versagen drohte: »Es freut mich, dass ich dem Sirenenvolk etwas zurückgeben kann, nachdem mich seine Magie derartig inspiriert hat. Aber ich muss gestehen, dass meine Bilder keineswegs als Einladung an Euch gedacht waren. Mein Haus steht auf festem Inselboden und so soll es auch bleiben.«
    »Mein Freund«, sagte die Sirene an den alten Maler gewandt, »ich schulde dir einen Gefallen, weil du mir einen Hafen inmitten von Land geschaffen hast, aber jetzt erwarte ich Stillschweigen von dir. Oder wäre es dir lieber, wenn ich dich zu mir ins Wasser einlade? Vielleicht mit einem Lied?« Bei den letzten Worten ließ sie eine Melodie mitschwingen, die bedrohlich und ergreifend zugleich klang.
    Für einen Augenblick sah es so aus, als würde Finebird nicht die Kraft aufbringen, dieses Angebot auszuschlagen. Dann schüttelte er erschöpft den Kopf. »Nein, stellt mich bitte nicht auf die Probe. Ich besitze weder die Kraft, Euch
ins Wasser zu folgen, noch um mich Euch zu widersetzen und den Jungen zu schützen.«
    »Beides wäre auch vollkommen sinnlos, wie du genau weißt.« Selbst diese grausame Wahrheit verringerte die Anziehungskraft der Sirene nicht. »Aber ich habe ein Nachsehen mit dir, denn die Magie des Meeres, die du mit deinen Bildern einfängst, ist einzigartig. Ich werde dich ein wahres Bild malen lassen, wenn du nun Stillschweigen bewahrst.«
    Wieder verwandelten sich ihre Worte in einen bezaubernden Gesang und mit pochendem Herzen beobachtete Josh, wie sich die Züge des alten Malers entspannten, bis er mit offenen Augen zu träumen schien.
    »Was zeigst du ihm?«, fragte Josh voller Argwohn.
    »Das, was er liebt: das Meer, mein Reich. Genau, wie ich es auch für dich tun werde.«
    Ein Lächeln breitete sich auf dem ebenmäßigen Gesicht der Sirene aus, so dass ihre Schönheit kaum noch zu ertragen war. Doch mehr als ihre Schönheit bannte Josh der Zauber, der von ihren Bewegungen ausging, dem Versprechen ihrer schimmernden Haut und dem leicht verruchten Klang in ihrer Stimme. Hierbei ging es nicht um Glückseligkeit, nein, ganz bestimmt nicht. Einer Sirene ausgeliefert zu sein, bedeutete: zu wollen, immerzu. Befriedung konnte nicht einmal ansatzweise so verlockend sein wie die Vorstellung, für immer von brennendem Verlangen nach diesem Geschöpf erfüllt zu sein.
    Plötzlich

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