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Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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darauf ein.«
    Josh schüttelte nur stumm den Kopf.
    Es war kein Bild, das Josh zu sehen bekam. Zumindest nicht im eigentlichen Sinne. Das Wasser verdichtete sich zu Eisscheiben, deren Unregelmäßigkeit das Treiben am Grund des Sees nur schemenhaft offenbarte. Doch er erkannte auch so, was die Sirene ihm zeigen wollte: Benjamin Galbraith, der hinabsank wie ein Schlafender durch einen nicht enden wollenden Traum. Wie er sich langsam um die eigene Achse drehte, schwerelos. Für eine Sekunde brach das Eis und gab den Blick frei auf sein Gesicht mit den geschlossenen Augen, deren Lider flackerten. Sein Mund war einen Hauch geöffnet, als würde er ein sehnsuchtsvolles Seufzen ausstoßen. Dann schob sich die Eisschicht wieder davor und drängte das Bild in die Ferne.Allerdings bewirkte die veränderte Oberfläche etwas, so dass Josh feststellen konnte, was seinen Vater im endlosen Blau hielt: ein schlanker Leib, der ihn umschlang, frei gab und
erneut in die Arme schloss, um Küsse auf seinen Mund zu hauchen. Ein feiner Sprudel aus Luftblässchen entkam dem Spiel ihrer Lippen und stieg auf. Rasch breiteten die Blässchen sich aus, und schließlich löste sich das Bild in Meeresschaum auf. Sofort nahm das Wasser wieder seine Bewegung auf.
    »Dein Vater ist einer der wenigen, denen es gelungen ist, unser Reich zu betreten. Wie du gesehen hast, ist er glücklich«, erklärte die Sirene. »Er ist so glücklich, wie auch du es sein wirst, wenn du mit mir kommst.«
    Obwohl er den entzückten Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters gesehen hatte, war Josh keineswegs erleichtert. So stellte er sich sein Leben eigentlich nicht vor. Außerdem... »Und wenn es mir nicht gelingt, dein Reich zu betreten, weil ich vorher ertrinke?«
    Ein Schatten glitt über die Gesichtszüge der Sirene, bevor sie ihr gewinnendes Lächeln wieder aufsetzte. »Alles, was du tun musst, ist, mir einen Namen zu geben. Binde mich an dich, dann kann ich dir den Weg in mein Reich zeigen, wo wir für immer vereint wären.«
    »Wenn es bloß ein Name ist, nach dem du dich sehnst, kann ich dir an seiner Stelle aushelfen«, bot Eileen an. Angriffslustig hatte sie die Hände in die Hüften gestemmt. »Wie wäre es mit Ursula?«
    »Ursula?«, echote Josh ungläubig, der sich beim Klang dieses Namens zwangsläufig ein wenig ernüchtert fühlte.
    Eileen funkelte ihn an, als könne sie so viel Begriffsstutzigkeit in einer solchen Situation nicht ertragen. »Hat deine Mutter dich etwa nie vor den Fernseher gesetzt, um mal eine Stunde Ruhe zu haben? Ursula ist die böse Meereshexe bei Arielle , das weiß doch jedes Kind.«
    »Du nennst mich eine Meereshexe?« Die Stimme der Sirene
hatte eine bedrohliche Note angenommen, und erneut zuckten Blitze über den kleinen See. »Vielleicht wäre es besser, wenn dein Mund eine andere Beschäftigung bekommt.«
    Mit einem qualvollen Gurgeln stolperte Eileen zur Seite. Ihre Augen quollen hervor, und sie mühte sich mit den Fingern ab, ihre fest verschlossenen Lippen aufzuzwingen, was ihr jedoch nicht gelang. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein verräterisches Rot aus.
    Auch ohne Erklärung begriff Josh, was geschah: Die Sirene füllte Eileens Mund mit Meerwasser, um sie zum Schweigen zu bringen.
    Mit einem Satz war er bei der jungen Frau, die gerade an der Wand hinabsank, während sie immer verzweifelter versuchte, das Wasser aus ihren Atemwegen zu bekommen. Hilflos sah er dabei zu, wie sich das Rot auf Eileens Wangen blau verfärbte. Sie würde nicht mehr lange durchhalten können.
    »Hör sofort auf damit«, knurrte Josh die Sirene an.
    »Das tue ich, wenn du aufhörst, dich mir zu widersetzen.« Die Blitze auf dem Wasser hatten sich zu einem festen Geflecht zusammengefügt und warfen ein grelles Licht auf die Sirene, so dass ihre Umrisse nur noch schwerlich auszumachen waren. »In dem Moment, in dem ich deine Hand in meiner halte, gebe ich sie frei. Versprochen.« Josh lachte heiser. »Das steckt also hinter deinen Verführungskünsten. Dann hat Eileen also Recht gehabt: alles nur schöner Schein, um deine wahren Interessen zu verbergen.«
    Trotz dieser Erkenntnis stand Josh auf und trat an die Wassernaht, denn Eileen war soeben bewusstlos in sich zusammengesackt. Ernst erwiderte er den Blick der Sirene,
deren liebliches Gesicht in der Helligkeit wieder Konturen annahm, dann reichte er ihr seine Hand.
    Ein hastiger Blick über seine Schulter verriet ihm, dass Eileen wieder zu sich kam und den Mund zu einem Schrei aufriss. Ihr

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