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Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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mitten im stürmischen Atlantik. Der richtige Ort, um sich zu beweisen.
    Wie bei jedem seiner Besuche übersprang Josh das höfliche
Anklopfen und trat direkt ins Cottage ein, das ausschließlich aus einem großen Raum mit einem freiliegenden Dachgebälk bestand. Finebird hatten die beengenden Räume nicht gefallen, und so waren die Steine der Trennwände dazu benutzt worden, die Außenwände auszubessern und aufzustocken. Den meisten Platz nahm das Atelier in Anspruch, denn Finebird arbeitete auf mannshohen Leinwänden - mal an diesem, mal an jenem Bild. Dementsprechend mussten Kochstelle und Esstisch sich mit einer Nische begnügen, während das Bett je nach Bedarf herumgeschoben wurde, so dass es nicht im Weg stand.
    Josh hielt sich gern in dem Cottage auf, in dem sich der Geruch von Ölfarbe mit dem Salzduft des Meeres und den muffigen Absonderungen des alten Gemäuers mischte. Ihn störte auch das ewige Halbdunkel nicht, denn wie der Wind wurde das Licht von den kleinen Fenstern abgehalten. Anfangs hatte er sich darüber gewundert, dass Finebird mit dem spärlichen Licht auskam, dann jedoch hatte er erkannt, dass der alte Maler seine Bilder mehr erfühlte, als sie mit scharfem Auge zu malen.
    »Hallo, Mr. Finebird, das Mittagessen ist da. Außerdem habe ich noch einige andere Dinge für Ihren Vorratsschrank mitgebracht, die Ihnen bald ausgehen dürften. Mrs. MacMillian meinte nämlich, dass sie Sie die letzten Tage nicht zu Gesicht bekommen hat. Hören Sie mich? Nicht, dass Sie vor Schreck tot umfallen, wenn ich plötzlich vor Ihnen stehe«, rief Josh in den Raum hinein, da er den Hausbewohner irgendwo zwischen seinen Leinwänden vermutete.
    Sogleich tauchte dessen schmaler Kopf seitlich eines Rahmens auf, wobei sein langer weißer Zopf hin und her baumelte. »Habe deine Ankunft schon mitbekommen,
Junge. Deinen lärmenden Motor hört man nämlich bereits eine Meile gegen den Wind. Fang ruhig schon mal an, ich brauche hier noch einen Moment. Kann jetzt keine Ablenkung vertragen.«
    »Ja, klar«, antwortete Josh und sagte leise an sich selbst gerichtet: »Du kommst dann mal später. Wie immer, wenn’s ums Kochen geht. Spätestens zum Essen ist das Kunstwerk plötzlich fertig, darauf wette ich.«
    »Das habe ich gehört. Ich bin alt, aber nicht taub«, kam Finebirds heisere Stimme zurück. »Du kannst ja herkommen und mir sagen, was an dem Bild nicht stimmt, an dem ich gerade arbeite. Dann kann ich auch Karotten schrubben.«
    »Schon gut«, entgegnete Josh hastig und sah zu, dass er die Einkäufe auf dem Esstisch ausbreitete. Denn er verspürte wenig Lust, sich ernsthaft mit Finebirds Bildern auseinanderzusetzen.
    Man könnte sagen, seit der Maler nach Cragganmore Island gezogen war, hatte seine blaue Phase begonnen. Was auch immer er zuvor gemalt haben mochte, hatte augenblicklich an Bedeutung verloren, als er einen Fuß auf die Steilklippe setzte. Seitdem gab es für ihn als Motiv nur noch das Meer.
    Blau in Blau, durchzogen von gelegentlichem Grau.
    Josh konnte nicht zu sagen, ob diese Farbschmierereien wirklich Kunst waren. Mit so etwas kannte er sich nicht aus, denn er hatte die Schule bald abgebrochen - die viele Zeit, die er dazu auf dem Festland hatte verbringen müssen, war nicht nach seinem Geschmack gewesen. Allerdings berührten Finebirds Bilder ihn. Wenn er lange genug auf die blaue Wirrnis blickte, glaubte er, Umrisse auf dem Grund auszumachen. Als würde da tief unter der Oberfläche jemand schwimmen.

    Finebird beobachtete ihn jedes Mal, sobald er, entgegen seinen Vorsätzen, versunken vor den großen Leinwänden stand. Der alte Maler schien in seinem Gesicht lesen zu wollen, was er in den Bildern sah.
    Einmal hatte er ihn sogar darauf angesprochen: »Was zeigt dir mein gemaltes Meer, wenn du lange genug hinsiehst, Josh?«
    »Was ich in Ihrem Meer sehe? Jede Menge Wasser«, hatte Josh die Frage abgeblockt, weil sie ihm unerklärlich intim vorgekommen war.
    Doch so leicht hatte Finebird sich nicht abschütteln lassen. »Stell dich nicht so dumm an. Ich will wissen, was du hinter der blauen Farbe erkennst.«
    Josh war ihm eine Antwort schuldig geblieben und hatte seitdem den Blick auf die Bilder vermieden - was angesichts seiner Freundschaft zu Finebird schon unhöflich zu nennen war.
    Kaum stand das Essen auf dem Tisch, kam Finebird wie erwartet um die Ecke. Eine schöne Tradition, die begonnen hatte, als die beiden Männer sich während der Renovierung des Cottage miteinander angefreundet hatten.

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