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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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verwirrt, in der Klassentür, am Übergang zum Tagesende.
    Als sie später auf die Straße tritt, und auch noch, während sie anschließend in der U-Bahn unterwegs ist, hat sie das, was sich da in ihrer Erinnerung, aber ebenso vor ihren Augen abgespielt hat, nicht völlig abschütteln können; es benimmt sich vielmehr tatsächlich ganz wie ein Geruch, das heißt, es setzt sich in Kleidung und Nase fest – beziehungsweise im Gedächtnis –, und das, solange es will, sie hat darauf keinen Einfluß. Sich eingestehen zu müssen, daß sie derart empfänglich für so etwas ist, zu erleben, daß ein belangloser Vorfall im Colegio sie dermaßen durcheinanderbringt, sie so sehr trifft, das schmerzt, mehr als alles übrige. Es schmerzt aber auch, feststellen zu müssen, daß ihre Verwirrung immer noch anhält, und wie! Station folgt auf Station, und das Colegio samt dem, was dort geschehen ist, rückt in immer weitere Ferne, und trotzdem schafft sie es nicht, aus der Welt zu entweichen, die durch die flüchtige Begegnung mit einem Geruch aufgestiegen ist, die Welt des elterlichen Hauses, des Hofs, der Blumenbeete, der Nacht, der Kindheit, des Vaters, der Zigaretten, des Rauchs, Baraglis.
    Dieses ungute Gefühl wird sie erst los, als es ihr gelingt, die Angelegenheit vom Standpunkt derjenigen aus zu betrachten, die sie doch in erster Linie ist: die Aufseherin der zehnten Obertertia. So hätte sie von Anfang an damit umgehen müssen, erst jetzt wird es ihr klar. Als Aufseherin dieser Klasse – mit den entsprechenden Verantwortlichkeiten –, hat sie einen ganz anderen, aber sehr deutlichen Grund, besorgt zu sein. Es ist ganz einfach und offensichtlich, aber bis jetzt, bis zu dem Moment, in dem sie sich dies sagt, hatte sie es schlichtweg übersehen: Wenn der Schüler Baragli nach Zigarettenrauch roch, als er um kurz vor neunzehn Uhr an ihr vorbeiging, dann deshalb,weil er zuvor geraucht hatte, und zwar im Inneren des Colegio, und dies während der Unterrichtszeit.
    María Teresa beschließt noch im selben Augenblick, hier an diesem dunklen Ort, der sich unter der Stadt erstreckt, was in den kommenden Tagen ihr wichtigstes Ziel sein soll: Baragli und die, die es ihm gleichtun, überraschen, in flagranti beziehungsweise, wie man so sagt – auch sie jetzt, zu sich selbst –, »auf frischer Tat«.
    Und als Herr Biasutto dann zu ihr kommt, an einem ruhigen Nachmittag im Aufseherzimmer, und sie daran erinnert, womit er sie in gewisser Weise überrascht, daß beide ja gelegentlich über etwas reden wollten, verzichtet María Teresa doch tatsächlich darauf, ihm von der Sache zu erzählen, um die es ihr ursprünglich gegangen war, nämlich die unschickliche Art und Weise, wie Dreiman sich damals – María Teresa hat es genau gesehen – auf dem Bürgersteig vor dem Colegio bei Baragli angelehnt hatte; und sie weiht ihn auch nicht in ihren hartnäckigen Verdacht ein, daß manche Schüler, wenn es darum geht, Abstand zu nehmen, die Gelegenheit dazu nutzen, insgeheim nicht hinnehmbare Fingerübungen auszuführen; dafür kommt sie auf etwas zu sprechen, was weniger lange zurückliegt, doch viel bedeutsamer ist, sie hat nämlich die starke Vermutung, ja mehr noch, sie ist sich fast sicher, daß es Schüler gibt, die es tatsächlich fertigbringen, während der Unterrichtszeit im Colegio zu rauchen!
    Herr Biasutto hat ihr bis dahin im Stehen zugehört, jetzt läßt er sich neben ihr auf einem Stuhl nieder.
    »Also das ist ja wirklich sehr interessant, was Sie da sagen.«
    María Teresa ist erleichtert, als sie ihn so reden hört; gleich darauf merkt sie, daß ihre Erleichterung in Begeisterungumschlägt; und aus der Begeisterung wird Stolz. Herr Biasutto, der Chef der Aufseher, weiß ihre Arbeit zu schätzen. Er gibt ihr recht, er hört ihr zu, er findet ihre Schlußfolgerungen sehr scharfsinnig und bedenkenswert. In anderen Schulen mögen derlei Regelverstöße denkbar sein, ja, dort betrachtet man sie womöglich als etwas Alltägliches: Daß die Schüler heimlich auf den Toiletten rauchen, das weiß doch jeder. Das Colegio Nacional dagegen strebt nach einer Ausnahmestellung, auch bei diesem Thema. Herr Biasutto drückt sich mit großer Sicherheit aus, diese Sicherheit rührt her von den vielen Jahren, die er jetzt schon sein Amt bekleidet, und von dem Ansehen, das er sich erworben hat, indem er ohne viel Aufhebens stets seine Pflicht erfüllt. Er hat Erfahrung, und auf der Grundlage dieser Erfahrung spricht er – wie die Lehrer des

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