Sittenlehre
Nachsitzen hier.«
Auch für die Aufseher ist die siebte Stunde nicht so einfach zu bewältigen, gerade weil während dieser Zeit nichts geschieht, absolut nichts, und eben dieses Nichts gilt es zu überwachen. María Teresa sitzt nun auf dem Lehrerstuhl, am Pult, das sie über die anderen erhebt, und sieht auf die Klasse. Die Schüler sitzen schweigend und reglos da, die meisten tun nichts. Bis zu den schriftlichenPrüfungen ist es noch eine Weile hin, das heißt, in dieser Hinsicht besteht noch kein Druck, auch wenn ein Schüler des Colegio natürlich jederzeit eine Aufgabe finden sollte, die erledigt werden kann oder für die Vorarbeiten geleistet werden können. Einige wenige Schüler lesen etwas oder kauen auf ihrem Bleistift herum, während sie über der in fernem Nebel verborgenen Lösung einer mathematischen Gleichung grübeln. Andere hängen ihren Gedanken nach und lassen so die Zeit verstreichen. Wie auch immer, zur Strafe die siebte Stunde absitzen zu müssen kann bedeuten, daß sich unangenehmerweise die Lernzeit im Colegio verlängert, oder aber, falls diese Zeit nicht durch Lernen ausgefüllt wird, daß man sich dazu verurteilt sieht, das reine Verstreichen der Zeit zu erleben: das Verstreichen der Zeit und sonst nichts.
María Teresa wacht darüber, daß kein Schüler die siebte Stunde zur Zerstreuung nutzt.
»Was machen Sie, Valentinis?«
»Ich lese, Fräulein Aufseherin.«
»Das sehe ich, Valentinis. Aber was lesen Sie? Das möchte ich wissen. Ein Zeitschrift?«
»Über Musik, Fräulein Aufseherin.«
»Hat Herr Roel Ihnen das zum Lesen gegeben?«
»Nein, Fräulein Aufseherin.«
»Das heißt, das, was Sie da lesen, hat nichts mit dem Fach Musik zu tun?«
»Nein, Fräulein Aufseherin.«
»Dann stecken Sie’s weg.«
Das Hinterhältige an der siebten Stunde ist, daß die Schüler sich aussuchen können, ob sie etwas tun oder aber einfach bloß dasitzen und vor sich hin stieren, bis es neunzehn Uhr ist; nicht so die Aufseher, selbst wennsie wollten, ist ihnen nichts anderes erlaubt, als dazusein und zu beobachten. María Teresa läßt den Blick langsam von einem Gesicht zum nächsten wandern (wenn sie hier etwas reichlich hat, dann Zeit). Capelán, zum Beispiel: Sie sieht ihn sich genau an. Bei jedem Antreten und jedem Distanznehmen versucht er aufs neue sein Spielchen mit der Hand oder den Fingern auf Marrés Schulter. Wie einst die großen wissenschaftlichen Geister des 19. Jahrhunderts bemüht sich María Teresa, seiner Physiognomie etwas grundlegend Unschuldiges oder aber grundlegend Böses abzulesen, um so seinen Fall ein für allemal abschließen zu können, statt immer wieder darauf zurückkommen zu müssen. Dann nimmt sie sich Servelli vor. Sie ist schuld daran, daß ihre sämtlichen Klassenkameraden nicht nur völlig unerwartet einen Verweis einstecken mußten, sondern außerdem gezwungen sind, jetzt hier herumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren. Servelli jedoch ist keinerlei Reue anzumerken, weder ihrem Gesicht noch ihrem Benehmen. Jetzt ist die Reihe an Cascardo: Die Lektüre des Buches, das vor ihm liegt, scheint ihn dermaßen in Anspruch zu nehmen, daß seine Ohren auf einmal knallrot geworden sind, fast könnte man meinen, im nächsten Augenblick gehen sie in Flammen auf. María Teresa nimmt noch mehr Gesichter in Augenschein, eins blickt so stumpfsinnig drein wie das andere. Dann fängt sie beim ersten wieder an.
Irgendwelche Überraschungen erwartet sie nicht, warum auch. Trotzdem hat sie, die Aufseherin, also diejenige, die hier die anderen beobachtet, auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Zunächst kann sie nicht feststellen, wer sie beobachtet; daß man sie beobachtet, ist jedoch eindeutig – so ist das immer in solchen Fällen. Sieblickt auf, fest entschlossen, die Augen ausfindig zu machen, die sie anvisieren. Und der Besitzer dieser Augen ist niemand anders als Baragli. Baragli sitzt an seinem Pult und sieht sie an, mit starrem Blick, der zugleich etwas völlig Unbeteiligtes hat – stumpfsinnig, könnte man auch sagen. So würde María Teresa es jedenfalls gerne bezeichnen, aber ganz so einfach ist es nicht. Sie sähe in diesem Blick am liebsten bloße Geistesabwesenheit, schlichte Verschlafenheit, ein Sich-Ergeben in die Tatsache, daß es, wie man’s dreht und wendet, nichts zu tun gibt. So wäre es ihr am liebsten, aber so einfach ist das nicht. Warum auch immer. Sarkastisch möchte sie den Gesichtsausdruck nicht nennen oder, noch schlimmer als
Weitere Kostenlose Bücher