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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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der Kantine, wie sich das wahrscheinlich – unangemessenerweise – nennt. Er hat dafür noch so eine von lauter gleichen Postkarten benutzt, offenbar haben sie gleich ein ganzes Dutzend davon gekauft. Nachdem es ihm bloß darum geht, einen Witz zu machen, egal, wie witzig, hat er einfach noch einmal das gleiche geschrieben, da kennt er nichts. Ganz offensichtlich dientder Witz seiner eigenen Unterhaltung, er denkt dabei weder an die Mutter noch an die Schwester. Was er nicht bedenkt, was er nicht mit einrechnet, ist, daß die Post auch mit im Spiel ist und in jedem Fall das Eintreffen seiner Nachricht verzögert. In dem Moment, als María Teresa die Karte vom Tisch nimmt, den Umschlag öffnet und mit enttäuschter Neugier liest, ist sein Lügenspiel – daß er weiß Gott wie weit weg ist – wahr geworden: Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich nicht mehr in Villa Martelli. Man hat seine Einheit verlegt. Ohne Vorwarnung und ohne weitere Erklärungen, wozu auch, hat man ihm und den anderen den Befehl erteilt, ihre Sachen einzusammeln und in den Rucksäcken zu verstauen, sodann auf dem zentralen Platz ihrer Einheit anzutreten und schließlich auf die Ladeflächen einer Reihe von Lastwagen mit geschwungener Frontseite zu klettern, kaum geschützt durch schlecht befestigte Planen. Weit war es nicht bis zu ihrem Ziel, ganz so nah war es aber auch nicht. Der Ort, zu dem sie fuhren, hieß Azul. Es dauerte mehrere Stunden, bis sie dort waren.
    María Teresa versucht ihre Mutter zu beruhigen, die zwar hört, daß sie etwas sagt, aber nicht zuhört, oder vielmehr zuhört, sie aber nicht versteht oder, noch genauer, sie versteht, ihr aber nicht glaubt. María Teresas Argument ist einfach und dennoch offensichtlich nicht überzeugend: Azul liege zwar Richtung Süden, sei aber noch nicht der Süden. Sie hat auf einer Landkarte nachgesehen – im Colegio; die Obertertia hat keinen Unterricht in argentinischer Geographie, dafür aber die Obersekunda. Azul liegt in der Provinz Buenos Aires, ungefähr in der Mitte, bevor es plötzlich hinauf in die Sierra de la Ventana geht, vor allem aber weit weg vom Meer, ziemlich weit.Trotzdem weint die Mutter und fragt sich: »Und was kommt dann?«
    Im Colegio ist nichts so wichtig wie die Einhaltung einer angemessen ruhigen und disziplinierten Grundstimmung, die konzentriertes Lernen erlaubt. Das Auf und Ab der Zeitläufte wird sehr wohl zur Kenntnis genommen, so hat etwa der Vizerektor, der zur Zeit die Schulleitung ausübt, verfügt, daß im Colegio jedermann eine Anstecknadel mit den argentinischen Farben am Revers zu tragen habe, jedermann, das heißt Schüler wie Lehrpersonal. Nichts ist dennoch in einer Bildungsanstalt wichtiger als ebendies: die Vermittlung beziehungsweise Aneignung von Bildung. Als einmal am Nachmittag aus unbekannter Ursache plötzlich die Sirene der Tageszeitung La Prensa einsetzte – aufgrund der Nähe des Zeitungsgebäudes war es, als käme der Sirenenton unmittelbar aus den Flurlautsprechern –, fehlte es nicht an unruhigen Seufzern und vagen Vorstellungen von sich ankündigenden Bombardements. Selbst auf den Gesichtern der Lehrer, oder vielmehr vor allem dort, zeichnete sich, je nach Charakter und Persönlichkeit des Betreffenden, beim Ertönen dieses sonst nur aus dem Kino bekannten Geräusches maßvolle Besorgnis, wenn nicht offenkundige Angst ab. Fast eine ganze Minute lang war die Sirene zu hören, bis heute weiß niemand, warum – vielleicht war sie versehentlich ausgelöst worden, vielleicht handelte es sich auch um einen Test. Das einzige Geräusch, das ansonsten imstande ist, von außen bis ins Innere des Colegio zu gelangen beziehungsweise seine wirklich dicken, mehr als hundert Jahre alten Mauern und hermetisch dichten, stets geschlossenen Fenster zu durchdringen, ist das Geläut, das zu jeder vollen, halben und Viertelstunde vom Turm des ehemaligenRatsgebäudes erklingt – die Melodie kennt man vom Londoner Big Ben, es ist die gleiche. Von diesem sorgfältigen Bemessen der verstreichenden Zeit abgesehen, an dem das eine Querstraße entfernte Colegio teilhat, verstreichen die Tage hier, als befände sich das Schulgebäude nicht im Stadtzentrum von Buenos Aires, sondern mitten in der Wüste. Was auch immer außerhalb zu hören ist, im Inneren findet es keinerlei Widerhall. Nicht so jedoch die Sirene von La Prensa – sie befindet sich in der berühmten Kuppel, die einen der Glanzpunkte der Avenida de Mayo bezeichnet –, bei ihr war es, als ertönte

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