Sittenlehre
Colegio, die vom Pult aus ihren Unterricht erteilen – mit María Teresa, die zwar als Aufseherin am wenigsten lange dabei ist, gleichwohl, und das sagt er ihr, trotz ihrer Unerfahrenheit die besten Anlagen verrät.
Herr Biasutto erzählt von den für das Colegio wie für das ganze Land so überaus schwierigen Jahren. Diese Zeit scheint zum Glück vorbei, ein schlimmer Fehler wäre es trotzdem, sich jetzt vertrauensvoll zurückzulehnen. María Teresa spürt, dies wäre der Augenblick, ihn nach den Listen zu befragen, der Augenblick, ihn zu bitten, zu erzählen, wie er das damals gemacht hat mit den Listen; aber sie kann sich nicht dazu durchringen, und so sagt sie nichts. Herrn Biasutto ist ein Vergleich eingefallen: Subversion, erklärt er ihr, die noch so unerfahren ist, ist wie eine Krebserkrankung, zuerst befällt dieser Krebs ein Organ, sagen wir, die Jugend, er infiziert sie mit Gewalt und abwegigen Ideen; doch dann breitet der Krebssich aus, das nennt man Metastasen, und die muß man unbedingt bekämpfen, auch wenn sie nicht so gefährlich scheinen, denn der Krebs steckt da überall mit drin, als Keim, wirklich beseitigen läßt sich ein Krebs nur, indem man ihn restlos entfernt. Herr Biasutto streicht mit einem Finger langsam über seinen dunklen Schnurrbart, man sieht, er denkt an vergangene Zeiten zurück. Die Tage sind vorbei, sagt er, damals mußten wir illegale Aktivitäten unterbinden und hochgefährliches Material konfiszieren (irgendwann, sagt er verschwörerisch – er senkt die Stimme und spricht María Teresa ins Ohr –, zeige ich Ihnen die Sachen mal, ich bewahre alles in einem besonderen Archiv auf, »Politisch-subversive Kampfschriften«). Das Colegio genau wie unser ganzes Land ist schließlich als Sieger aus dieser Zeit hervorgegangen, aber was nützt es, wenn wir den Krebs bekämpfen, und anschließend kümmern wir uns nicht um die Metastasen. Herr Biasutto setzt zu einer Handbewegung an, führt sie aber nicht zu Ende, weswegen María Teresa auch nicht begreift, worauf er hinauswill, hätte er sie ganz zu Ende gebracht, hätte sie vielleicht verstanden, sie glaubt allerdings, die Geste hätte darin bestehen sollen, daß die erfahrene und feste Hand eines Oberaufsehers, der sich in seiner Laufbahn niemals etwas hat zuschulden kommen lassen, ihren unerfahrenen Arm, ihren Arm einer unerfahrenen Aufseherin, umgreift. Als hätte sie plötzlich vergessen, worauf sie hinaus will, hält die Hand jedoch auf halbem Wege inne. Gleich darauf entspringt Herrn Biasuttos Einbildungskraft ein neuer Vergleich: Die Subversion ist nicht nur Körper, sondern auch Geist. Und dieser Geist überlebt, und eines Tages erfährt er in einem neuen Körper seine Auferstehung. Was heißt das eigentlich, im Colegioauf der Toilette rauchen? Herr Biasutto legt eine Pause ein, María Teresa ist jedoch klar, daß das nur eine Kunstpause ist. Zu einer anderen Zeit und in einer anderen Schule, gibt Herr Biasutto selbst die Antwort, ist das ein Schülerstreich – der typische Streich fehlgeleiteter Heranwachsender. In unserer Zeit und an unserer Schule ist das etwas anderes: Darin steckt der Geist der Subversion, und der ist gefährlich.
Herr Biasutto streicht sich mit beiden Händen das Haar glatt, er ist zufrieden mit sich selbst, er merkt, er hat es gut ausgedrückt. Er weiß, daß María Teresa anfängt, ihn zu bewundern, auch wenn sie es selbst noch nicht bemerkt hat.
Juvenilia
Die Mutter weint jetzt immer öfter, dabei schluchzt sie heftig, bekommt schließlich kaum noch Luft. Vor allem vormittags bombardiert das Radio seine Hörerschaft mit den martialischen Klängen von Marschmusik. Inzwischen ist noch eine Postkarte von Francisco eingetroffen. Mit dem gleichen Bild darauf: der Obelisk aus der Vogelperspektive. Man könnte denken, es sei ein anderes Photo, ähnlich, aber doch anders, es ist aber das gleiche wie auf der ersten Karte. María Teresa merkt es an dem roten Bus, der auch hier den Platz überquert, damit gibt es keinen Zweifel mehr. Das gleiche Photo und der gleiche Witz: so tun, als wäre er weiß Gott wo oder als wären sie, die Mutter und María Teresa, seine Schwester, weiß Gott wie weit entfernt, wodurch die Karte mit der Stadtansicht auf einmal für alle einen gewissen Sinn bekäme. Und auf der Rückseite steht auch diesmal wieder: »Irgendwann komme ich schon noch drauf.«
Francisco muß die paar Wörter in irgendeiner schäbigen Baracke geschrieben haben, auf dem Tisch, an dem sie auch essen, in
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