Sittenlehre
sarkastisch, lüstern – im einen wie im anderen Falle könnte sie unverzüglich eingreifen und die Situation beenden, mit einem Paukenschlag. (Daß man nicht eindeutig sagen kann, was ein Gesichtsausdruck tatsächlich besagt, spielt dafür keine Rolle: Ihr Wort genügt, jede Widerrede ist hier zwecklos.) Baraglis Blick ist aber weder spöttisch, noch mustert er sie mit einem ausgesprochenen Männerblick, und trotzdem ist María Teresa sicher: Die reine Unschuld spricht nicht aus diesen Augen. Nicht, daß er sie herausfordern würde – jede Reaktion ihrerseits wäre also übertrieben. Und dennoch sieht Baragli sie allzusehr an, allzulange, allzu starr. Zugleich aber stellt er es so geschickt an, daß er, falls nötig, behaupten könnte, er habe bloß vor sich hin gesehen, in keine besondere Richtung, an die Tafel oder an die Wand oder an die Decke, genaugenommen einfach geradeaus, wogegen es am allerwenigsten einzuwenden gibt, und wenn sie sich dort befindet, ist das nicht seine Schuld. María Teresa sieht alle diese möglichen Ausreden voraus und unternimmtfolglich nichts. Sie versucht, anderswohin zu sehen, andere Gesichter in den Blick zu nehmen, den Blick sich irgendwo im Klassenhintergrund verlieren zu lassen, so wie die Schüler, hofft sie, es in umgekehrter Richtung machen. Doch Augen, die einen ansehen, haben eine unwiderstehliche Anziehungskraft, und so kehrt ihr Blick über kurz oder lang zu Baragli zurück, um festzustellen, daß er sie weiterhin ansieht. María Teresa senkt den Blick daraufhin ein wenig, aber nicht, um Baragli nicht mehr anzusehen, im Gegenteil, sie konzentriert sich auf seinen Mund. Und findet ihre Erwartung bestätigt: In jedem Moment könnte ein Lächeln darauf erscheinen, genau das beunruhigt sie ja schon so lange. Lachte dieser Mund, lächelte er, verzöge sich wenigstens in unmißverständlicher Weise auch nur einer der Mundwinkel, wäre alles ganz einfach, sie brauchte bloß einzuschreiten, Baragli bestrafen, und die Sache wäre erledigt. Aber im Angesicht eines Ausdrucks, der noch nicht existiert, kann sie nichts tun. Eines Ausdrucks, der sich schon im nächsten Moment abzeichnen könnte, der zu erahnen ist, der sich voraussagen läßt – aber noch nicht existiert. Sie kann nichts tun, außer warten. Warten, bis es kurz vor neunzehn Uhr ist.
Endlich ist es soweit. Die siebte Unterrichtsstunde ist zu Ende.
»Gut, Sie können einpacken.«
Die Schüler gehen aus dem Klassenraum. María Teresa stellt sich in den Türrahmen, um den Auszug der Schüler zu überwachen. Von dieser Stelle aus hat sie das Geschehen auf dem Gang wie auch das in der Klasse im Blick, die Schüler, die schon draußen, und die, die noch drinnen sind. Das führt zwangsläufig dazu, daß die Schüler ziemlichnahe an ihr vorbeigehen. Der eine oder andere streift sie sogar, natürlich unabsichtlich, mit seiner Schultasche oder mit der Jacke. Als Baragli an ihr vorbeigeht, sieht er sie nicht an. Komischerweise – oder, wer weiß, vielleicht ist auch nichts Besonderes daran – sieht er sie in keiner Weise an. Rasch geht er vorbei, den Blick auf den Boden oder auf die Schuhe geheftet, als gäbe es nichts anderes. Im Vorbeigehen hinterläßt er jedoch – auf ihr, in diesem Fall – einen Geruch, der nicht wenige Erinnerungen heraufbeschwört. Plötzlich sieht María Teresa sich in ihre Kindheit zurückversetzt, in einen der Momente, wenn sie abends nach dem Essen zu Hause noch eine Zeitlang beisammensaßen. Erst nach einer Weile begreift sie, daß sie sich vor allem an ihren Vater erinnert – an ihren Vater nach dem Abendessen, als sie ein kleines Mädchen war und sie noch in dem Haus mit dem Hof auf der Hinterseite wohnten, ein Hof mit Blumenbeeten. Dann erst macht sie sich klar – und die Entdeckung läßt sie nicht unberührt –, daß der Geruch, der von Baragli ausgeht, ganz und gar einem der Gerüche jener verlorenen Nächte gleicht, dem Geruch von Zigaretten aus schwarzem Tabak. Ihr Vater rauchte solche Zigaretten, die Packungen hatten goldene und grüne Streifen; man sieht sie nicht mehr so oft, es gibt sie aber noch zu kaufen. Der Rauch stieg in langgezogenen Spiralen zur Decke auf und verbreitete den Geruch im ganzen Haus, Abend für Abend, Teil eines Rituals, das niemals ausgelassen wurde. Ebendiesen Geruch hat Baragli ihr soeben im Vorbeigehen wiedergegeben – beziehungsweise er hat sie diesem Geruch wiedergegeben –, und so steht sie nun da, in ihre Erinnerungen versunken, vielleicht ein wenig
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