Sittenlehre
sie mitten im Schulgebäude. Dort, wo – was die Sache nicht besser machte – jedermann wehrlos und wie gebannt verstummte. Es dauerte eine Minute, fast eine Minute lang. Dann war es wieder still, und nichts geschah. Nichts. Bis nervöses Lachen einsetzte, bei ziemlich vielen, etwas, was im Colegio ziemlich selten vorkommt, selbst die Lehrer oder vielmehr vor allem die Lehrer lachten. Nachdem die Minute und das, was darauf folgte, vorbei waren, ging jedoch der Unterricht weiter, als wäre nichts geschehen; niemand wäre auf die Idee gekommen, daß etwas anderes möglich sein könnte, und es war auch gar nichts anderes möglich. Einzig die Diktatur von Juan Manuel de Rosas, die größte Tragödie der argentinischen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, hatte die Lehrtätigkeit am Colegio unterbrochen, und das durfte nicht noch einmal geschehen, um keinen Preis, auch nicht für einen Tag.
María Teresa beginnt mit der Umsetzung ihres Plans, während der Pausen die Toiletten zu überwachen. Normalerweise schlendern die Aufseher auf gut Glück durch die Gänge, indes die Schüler die Zeit nutzen, um sich zu unterhalten, ihre Aufzeichnungen durchzusehen oder amKiosk – in jedem Stockwerk des Colegio gibt es einen – etwas zu essen zu kaufen. María Teresa bemüht sich weiterhin, ihr Auf-und-ab-Marschieren möglichst ungerichtet und ziellos wirken zu lassen, auch wenn sie die Augen dabei stets weit geöffnet hält. Hier ein bißchen, da ein bißchen, wie man es bei einer Wachrunde eben so macht. In Wirklichkeit stimmt das mit dem »auf gut Glück« jedoch nicht so ganz, vielmehr richtet sich ihr Augenmerk jetzt hauptsächlich auf den Flurabschnitt des zweiten Stockwerks, wo sich die Toiletten befinden. Toiletten gibt es auf jedem Stockwerk, eine Knaben- und eine Mädchentoilette. Jede Toilette verfügt deshalb über zwei Zugänge, einen an jedem Ende. Die Türen bestehen aus zwei Flügeln, zwei grüngestrichenen Flügeln, es sind Schwingtüren, wie in den Western, die Samstag nachmittags im Fernsehen kommen. Die Schwingtüren reichen nicht bis zum Boden, sie enden ungefähr auf Höhe der Oberschenkel, zum Rein- beziehungsweise Rausgehen muß man sie mit der Schulter oder mit der ausgestreckten Hand anstoßen, anschließend schwingen sie noch eine Weile hin und her – davon haben sie ja ihren Namen –, immer schwächer, bis sie schließlich ihre Ausgangsstellung wieder einnehmen, so daß eine parallel zur anderen steht.
María Teresa entscheidet sich für die Knabentoilette. Sollte es wirklich Schüler geben, die im Colegio rauchen, so können sie dies nur auf den Toiletten, nirgendwo anders. Ein Aufseher geht stets gemächlich, festen, aber gemessenen Schrittes. María Teresa neigt jedoch dazu, den Schritt beim Vorbeigehen an den Toilettentüren ein wenig zu beschleunigen, das muß sie korrigieren, zweifellos. Sie darf es natürlich nicht soweit kommen lassen, daß sie vor der Schwingtür stehenbleibt, dennoch muß sie dieVerweildauer auf diesem Abschnitt ein wenig ausdehnen, um tatsächlich die Möglichkeit zu haben, zu entdecken, was sie entdecken möchte. Im Vorbeigehen sieht sie zu Boden, schließlich soll es nicht so ausschauen, als versuchte sie einen Blick ins Innere der Knabentoilette zu erhaschen, was, so wie die Schwingtüren nun einmal funktionieren, keineswegs ausgeschlossen wäre. Es geht ihr ja nicht darum, etwas zu sehen, etwas zu erblicken, vielmehr möchte sie mit Hilfe des Geruchssinnes herausfinden, ob es im verborgenen Inneren der Toilette zum Regelverstoß kommt. Für ein männliches Mitglied der Aufseherschaft wäre dies selbstverständlich einfacher zu überprüfen, schließlich verfügte dieses über die Möglichkeit, die Toilette zu betreten. María Teresa hat jedoch nicht vor, irgendwelche Kollegen in ihren Verdacht einzuweihen, weder Marcelo noch Leonardo, noch Alberto – sie will diejenige sein, die den Missetäter überführt und den somit gelösten Fall anschließend Herrn Biasutto zur Entscheidung vorlegt, was dieser sicherlich gebührend zu würdigen wissen wird.
Den Toiletten entströmt stets ein durchdringender Chlorgeruch. Ein starker, ja aggressiver Geruch, und doch ein Geruch nach Sauberkeit. Im Lauf des Tages schwächt dieser Geruch sich ab, das kann auch gar nicht anders sein, es liegt daran, daß dieser Ort ständig aufgesucht wird und außerdem natürlich Stunde um Stunde verstreicht; niemals jedoch wird er von jenen anderen Gerüchen überdeckt, wie sie eigentlich
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