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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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diesem ins Gesicht zu sehen wie bei einer ganz normalen Unterhaltung. All diese Dinge gehen María Teresa in diesen Tagen zum erstenmal durch den Kopf, das ist die Folge davon, daß sie mit so wacher Aufmerksamkeit ihrer Aufgabe als Aufseherin nachgeht, früher hat sie ganz anders über derlei gedacht, beziehungsweise sie hat nicht anders, sondern eigentlich überhaupt nicht darüber nachgedacht.

Sittenlehre
    Der Studienleiter hat eine Inspektion angeordnet. Das ist ab und zu nötig, selbstverständlich ohne Vorankündigung, denn sosehr sich einer auch darum bemüht, Grundsätze einzupflanzen und zu verfestigen, selbst bei den besten Gewohnheiten macht sich irgendwann Nachlässigkeit breit. Vor allem um zwei Dinge geht es bei dieser Überraschungsaktion: Haare und Strümpfe. Die diesbezüglichen Vorschriften sind jedem Aufseher genauestens bekannt. Aber Kenntnis der Vorschriften und die Überwachung von deren strikter Einhaltung sind zweierlei. Was das Haar betrifft, so haben die Schülerinnen es entweder zu Zöpfen oder zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, welche wiederum mit Hilfe von Haarnadeln und einer blauen Haarspange zu fixieren sind. Ponyfrisuren sind nicht erlaubt (es wird davon ausgegangen, ohne daß dies ausdrücklich gesagt würde, daß eine freie Stirn ein Zeichen von Intelligenz ist). Für die männlichen Schüler ist kurzes Haar vorgeschrieben. Kurz heißt: die Ohren frei und im Nacken ein zwei Finger breiter – zwei Finger einer durchschnittlich großen Hand – ausrasierter Streifen zwischen Kragen und Haaransatz. Was die Strümpfe angeht, gilt für alle: blau und aus Nylon. Bei den Mädchen ist es einfach nachzuprüfen, ob sie sich daran halten, schließlich tragen sie knielange Röcke, die Strümpfe darunter liegen offen zutage. Bei den Jungen ist es nicht ganz so einfach, ihre schweren grauen Hosenreichen bis über die schwarzen Halbschuhe. Damit ihre Strümpfe überprüft werden können, müssen die Jungen erst ein Bein voranstellen, dann das andere, und jeweils den Hosensaum ein Stück hochziehen. Dafür ist eine gewisse Zartheit nötig, die den Jungen offensichtlich nicht ohne weiteres gegeben ist. María Teresa schreitet die Reihe der Schüler ab, die im Gang angetreten sind. Abstand nehmen und Stillgestanden, beide Befehle haben sie bereits erfüllt. Die Strümpfe der Mädchen entsprechen ausnahmslos den Vorschriften – sie sind blau, aus Nylon und hochgezogen. Jetzt sind die Jungen dran. María Teresa muß sich ein wenig vorbeugen, um die Strümpfe in Augenschein nehmen zu können, und sie muß dabei besonders umsichtig sein. Die Jungen wissen selbst, daß ihre Strümpfe nicht so einfach zu sehen sind, deshalb neigen sie hier eher zur Nachlässigkeit. In diesem Fall Calcagno, zum Beispiel. Seine Strümpfe sind blau, das schon, so wie es sich gehört, aber sie sind nicht aus Nylon, sondern aus Frottee, es handelt sich um Tennisstrümpfe, die Marke ist an der Gestalt eines kleinen aufrecht stehenden Pinguins darauf zu erkennen. María Teresa beläßt es bei einer Ermahnung, einen Verweis erteilt sie Calcagno nicht, sie macht allerdings einen Eintrag ins Klassenheft und weist ihn darauf hin, daß sie am nächsten Tag nachprüfen wird, ob er die vorschriftsmäßigen Strümpfe trägt. Calcagno verspricht, die Sache in Ordnung zu bringen, und die Inspektion wird fortgesetzt. Als Baragli an der Reihe ist, beschleicht María Teresa ein ungutes Gefühl. Was es sein könnte, weiß sie nicht, rote Socken womöglich, wer weiß, in jedem Fall hat sie da so eine Ahnung, irgend etwas ist nicht in Ordnung, soviel ist klar. Sie sieht Baraglis Strümpfe, es ist nichts daran auszusetzen: blau und ausNylon. Aber um sie ihr zu zeigen, zieht Baragli zu heftig an seiner Hose, er läßt den Saum zu weit hinaufrutschen und präsentiert María Teresas sich nähernden Augen nicht nur seine blank geputzten Schuhe und die vorschriftsgerechten Strümpfe, sondern dazu noch einen Teil seines Beins, einen Streifen bleiche, von dunklen Haaren bevölkerte Wade, das zeigt er ihr, das läßt er sie sehen, und sie ist mit dem Gesicht so nahe herangekommen, daß sie dem kruden Realismus dieser zur Schau gestellten Haut nicht mehr ausweichen kann. Baragli zieht das Bein zurück und hält ihr sofort das andere hin. María Teresa hat sich von dem Schreck noch nicht erholt, sie hört eine Art Pfeifton, der sie ganz wirr macht, und hat das Gefühl, daß ihre Backen auf einmal fester und wärmer sind. Das andere Bein: Baragli

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