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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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der nicht zum Unterricht erscheinen konnte, zukommen zu lassen, all das fällt wiederum den Aufsehern zu.
    María Teresa wird sich nun am Lehrerpult im Raum der zehnten Obertertia niederlassen, weil Herr Cano, der hier Geschichte unterrichtet, am heutigen Tag nicht zum Unterricht erscheinen wird. Zwei Stunden sind zu absolvieren, die fünfte und die sechste, die zwei letzten Schulstunden des Tages. Zum erstenmal betätigt María Teresa die Doppeltafel, die sie schon so oft betrachtet hat. Wenn man die eine der beiden Tafeln hinaufschiebt, steigt die andere hinab, und umgekehrt, María Teresa muß bei dieser Technik aus irgendeinem Grund ans Theater denken. Mit sanft kreisenden Bewegungen läßt sie mit Hilfe des Wischlappens eine Gleichung mit zwei Unbekannten von der Tafeloberfläche verschwinden, die den Schülern der zehnten Obertertia offensichtlich seit der vorhergehenden Unterrichtsstunde zu schaffen macht. Herr Cano, der seit einiger Zeit das Thema der PunischenKriege behandelte, hat für den – jetzt eingetretenen – Fall, daß er nicht zum Unterricht erscheinen kann, eine Übung zur Analyse und Diskussion historischer Zitate als Aufgabenstellung vorbereitet. Vorerst treiben Kreidepartikel in der Luft, der Staub hat sich nach dem Tafelwischen noch nicht ganz gelegt, die Sicht ist folglich ein wenig getrübt. María Teresa beginnt dennoch mit dem Tafelanschrieb: »Lesen Sie aufmerksam die folgenden Zitate. Kommentieren Sie die Texte und setzen Sie sie zueinander in Verbindung.« Anschließend hustet sie beziehungsweise räuspert sie sich und erklärt, daß es sich um insgesamt zwölf Zitate handelt, die sie nun diktieren wird. Beim Diktieren legt sie die gleiche Stetigkeit an den Tag, wie wenn sie während der Pausen die Gänge auf und ab schreitet. Auch wenn sie dabei genügend Zeit läßt, gibt es doch immer jemanden, der sich mit dem Schreiben schwertut und darum bittet, langsamer zu diktieren. Anderen gelingt es nicht, sich alle von ihr vorgesagten Wörter zu merken, weshalb sie um Wiederholung bitten.
    Das erste Zitat auf Herrn Canos Liste, das María Teresa den Schülern der zehnten Obertertia diktiert, stammt von Sunzi. Bevor sie es vorliest, dreht sie sich um und schreibt – mit Druckbuchstaben, damit man es besser lesen kann – an die Tafel: »Sunzi, ›Die Kunst des Krieges‹«.
    Dann beginnt sie mit dem Diktat: »›Wer sich auf die Kriegführung versteht, baut auf den Weg und wahrt das Gesetz.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Wer sich auf die Kriegführung … versteht, … baut auf den Weg … und wahrt … das Gesetz.‹ Nächstes Zitat: ›Die Kriegführung fußt auf der Täuschung.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Die Kriegführung… fußt … auf der Täuschung.‹ Drittes Zitat, Fortsetzung des vorherigen: ›Bedenke, daß auch der Feind sich der Täuschung bedient.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Bedenke, … daß auch der Feind … sich der Täuschung … bedient.‹ Viertes Zitat.«
    »Immer noch Sunzi?«
    »Ja, Valenzuela. Solange ich nichts anderes sage, sind alle Zitate aus ›Die Kunst des Krieges‹ von Sunzi. – Viertes Zitat: ›Setze einem Feind in äußerster Bedrängnis nicht weiter zu.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Setze einem Feind … in äußerster Bedrängnis … nicht weiter zu.‹ Fünftes Zitat: ›Die siegreiche Armee sucht erst den Sieg und dann die Schlacht.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Die siegreiche Armee … sucht erst den Sieg … und dann … die Schlacht.‹ Bis hierher, Sunzi.«
    Jetzt dreht sich María Teresa erneut zur Tafel um und schreibt genau unter das, was sie zuerst angeschrieben hat: »Niccolò Machiavelli, ›Über die Kunst des Krieges‹«. Sie trägt das sechste Zitat vor, das erste von Machiavelli: »›Für den Zusammenhalt des Heeres ist nichts so wichtig wie der Ruhm seines Anführers.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Für den Zusammenhalt … des Heeres … ist nichts so wichtig … wie der Ruhm seines Anführers.‹ Siebtes Zitat, zweites von Machiavelli: ›Unklug ist es, den Feind in eine aussichtslose Lage zu bringen.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Unklug ist es, … den Feind … in eine aussichtslose Lage … zu bringen.‹ Nun zum dritten Autor.« María Teresa schreibt an die Tafel: »Carl von Clausewitz, ›Vom Kriege‹«.
    »Achtes Zitat,

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