Sittenlehre
vor ihr liegt ein harmloses Stück Huhn, sie sieht es an, und auf einmal ist es, als wäre ihr derlei noch nie untergekommen: ein Klumpen mißhandeltes Fleisch, dazwischen ein paar abstoßende Knochen – kaum zu glauben, und das soll sie essen? Die Mutter rät ihr, trotzdem anzufangen, ihrer Meinung nach kommtso ein Schwindelgefühl oft gerade daher, daß man längere Zeit nichts gegessen hat, ein Bissen genügt, und gleich geht es einem besser. María Teresa läßt sich davon überzeugen und macht einen Versuch. Sie führt eine Gabelvoll zum Mund und kaut dann minutenlang auf dem Essen herum, bemüht, zu schlucken; endlich gelingt es ihr – mit viel Überwindung und nur, weil sie auf diese Weise nicht mehr zu kauen braucht. Den Rest Huhn läßt sie auf dem Teller zurück. Ich lege mich hin, sagt sie.
»Ohne zu duschen?«
Der Vorstellung, unter der Dusche zu stehen, ist ihr genauso unangenehm wie die, weiterzuessen. Sie will sich nur noch hinlegen und schlafen, am liebsten wäre sie schon dabei, einzuschlafen, am liebsten schliefe sie schon. Sie läßt die Mutter allein am Tisch zurück; die schüttelt bloß den Kopf. María Teresa schlüpft rasch in ihr Nachthemd und rollt sich dann im Bett unter der Decke zusammen. Aber sie schläft nicht ein. Sie sehnt sich so sehr danach, im Schlaf zu versinken, daß ihr ebendies nicht gelingt. Sie kann nicht einschlafen. Bestenfalls schafft sie es bis an die Schwelle des Schlafes – so, als wollte sie einmal ausprobieren, was das heißt: schlafen –, aber sich ganz und gar von der Tageswelt zu lösen, das bringt sie nicht zustande, schon liegt sie wieder mit offenen Augen da, schmerzhaft nehmen sie den Lichtschein wahr, der durch die Ritzen im Rolladen dringt. In ihrem Kopf kreisen Bilder, vielleicht schläft sie doch schon und es ist ein Traum, vielleicht arbeitet auch nur ihre Vorstellungskraft (die sie nicht einschlafen läßt beziehungsweise sie weckt, sobald sie anfängt einzuschlafen). Auf den Bildern vermischen sich Baraglis Bein und Valenzuelas Nacken, sie vermischen sich und gehen seltsame Verbindungenein (etwa ein Nacken voller Wadenhaare oder eine Wade, auf der der Nackenflaum steht, oder zwei ausgestreckte Finger, die sich auf ein Bein zubewegen). María Teresa versucht es mit dem Mittel, das ihr, seit sie ein Kind war, geholfen hat, friedlich in den Schlaf zu finden, in dem Gefühl, sicher und beschützt zu sein. Aber an diesem Abend verhilft ihr nicht einmal der Rosenkranz, den sie mit einer Hand umklammert, zur nötigen Ruhe.
Von der Unfähigkeit einzuschlafen erschöpft, beschließt sie aufzustehen. Sie trifft die Mutter vor dem Fernseher an, das Licht im Zimmer hat sie ausgeschaltet. Der hellblaue Widerschein der Mattscheibe taucht den Raum in einen diffusen Schimmer.
»Was siehst du da?«
»Die Nachrichten.«
María Teresa setzt sich in den anderen Sessel und sieht ebenfalls fern. Sie ist nicht besonders aufmerksam bei der Sache, ihre Gedanken schweifen umher (zum Beispiel fragt sie sich, ob sie wohl jemals einen Farbfernseher kaufen werden), und so bemerkt sie erst nach einigen Minuten, daß ihr die Nachrichtensendung nicht etwa deshalb so seltsam vorkommt, weil sie noch immer oder schon wieder wach ist – es ist nur einfach die Lautstärke abgestellt: Vor sich hat sie bloße Bilder ohne Ton, geräuschloses Gestikulieren.
»Willst du nicht hören, was sie sagen?«
»Die sagen doch immer das gleiche.«
»Aber wenn du schon zuschaust, willst du da nicht hören, was sie sagen?«
»Wenn ich zuhören will, mache ich das Radio an.«
Auf dem Bildschirm sieht man einen Sänger, der das Mikrophon ganz dicht an den Mund hält. Beim Singenhat er die ganze Zeit die Augen geschlossen, um so weiter – übertrieben weit eigentlich – macht er den Mund auf. Da man ja nicht hört, was er singt, gerät seine übermäßige Beredsamkeit zur bloßen Grimasse. Am Bildrand steht als Untertitel »Solidaritätskonzert«. Immer wieder werden Bilder von hoch erhobenen Fäusten, die kleine Argentinienfahnen schwenken, eingeblendet. Anschließend erscheint für eine Weile der Nachrichtensprecher des Senders. Es ist keiner von den ganz bekannten, die ganz bekannten übernehmen die Acht-Uhr-Nachrichten, mitternachts kommt immer einer aus der zweiten Reihe zum Zuge, manchmal ein junger – ein Anfänger –, manchmal ein alter, der nicht mehr lange dabeisein wird. Dann kommt der nächste Bericht: Es geht um einen jungen Mann mit schwarzem Bart, der nachdenklich zu dem
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