Sittenlehre
geschrieben. Er hat nur unterschrieben, mit seinem Vornamen: Francisco. Das ist alles.
Im Colegio weiß niemand, daß María Teresa einen Bruder hat. Wie auch, beschränkt man sich dort im Zwischenmenschlichen doch für gewöhnlich auf wenige knappe Worte, die durch María Teresas zurückhaltende und scheue Art nicht eben mehr werden. Sie verfolgt zwar die Gespräche im Aufseherzimmer – sofern welche stattfinden –, trägt selbst aber kaum etwas dazu bei, wenn, dann normalerweise bloße Floskeln (na so was,wer hätte das gedacht, das kann doch nicht sein, um Himmels willen – solche Sachen). Und während der Pausen sind die Aufseher allein unterwegs, um einen möglichst großen Teil der Gänge zu überwachen – dabei können sie sich natürlich auch nicht unterhalten. María Teresa hält sich zudem ausgerechnet in dem Bereich am häufigsten auf, den die anderen am wenigsten oft aufsuchen, das heißt in der Nähe der Toiletten. Sie behält ihre geheime Beobachtermission in dieser Gegend bei. Sie läßt sich nicht davon abbringen, immer wieder dort aufzutauchen, freilich ohne sich ein besonderes Interesse anmerken zu lassen. Bislang ist sie noch auf kein belastbares Beweismaterial gestoßen. Einstweilen erfüllt den betreffenden Abschnitt der immer gleiche Chlorgeruch – mit einer, ihrer Ansicht nach, dominanten Ammoniaknote – oder aber, wie sie wiederholt hat feststellen können, ein dichter, jedoch geruchloser Luftstrom.
In Buenos Aires ist es seit kurzem kalt geworden, ziemlich kalt sogar, was die Sache nicht besser macht, der Winter steht bevor, und den schneidend kalten Windstößen auf der Straße verdankt María Teresa eine lästige Erkältung, die nicht weichen will. Aus diesem Grund hält sie stets ein kleines Taschentuch bereit, das sie diskret zwischen den Ärmel ihres schwarzen Pullovers und die Rüschen am Ärmel ihrer weißen Bluse schiebt. Damit schneuzt sie sich ein ums andere Mal, so fest, daß sie den Gegendruck in den Ohren spürt; trotzdem ist die Nase gleich danach wieder zu, ganz frei bekommt sie sie nie. Darum kann sie auch nicht wie gewohnt riechen, die feineren Nuancen entgehen ihr, so differenziert wie sonst nimmt sie keinesfalls wahr. Trotzdem beruhigt sie sich durch die Gewißheit, daß ein Nikotingeruch, falls ein solchertatsächlich auftreten sollte, unmöglich unbemerkt von ihr bliebe, nicht einmal aus der Ferne.
Die Toiletten rufen ganz eigene Bewegungsmuster innerhalb der Schülerschaft auf dem Gang hervor, was María Teresa erst wahrnimmt, seit sie so genau darauf achtet. Manche Schüler suchen in jeder Pause die Toilette auf, manchmal sogar mehrfach in ein und derselben Pause. Andere dagegen tun das nie – so als ob sie es gar nicht nötig hätten. Manche bleiben mehrere Minuten lang dort, das heißt, sie verrichten ein größeres Geschäft. Andere wiederum kommen nach dem Eintreten so schnell wieder heraus, daß María Teresa sich fragt, ob es überhaupt möglich ist, sich in so kurzer Zeit zu entleeren, auch wenn ihr, wie jedermann, bewußt ist, daß Männer diese Sache anders erledigen als Frauen und anschließend auch nicht die gleichen hygienischen Maßnahmen treffen müssen. Im Vorbeigehen hört sie die männlichen Stimmen, die aus der Toilette dringen; nicht daß sie es darauf anlegen würde, ihr geht es ja vielmehr ums Riechen, andererseits kann sie die Ohren natürlich auch nicht davor verschließen (es geht ihr auch nicht darum, etwas zu sehen, geschweige denn zuzusehen, dennoch macht sich ihr Blick manchmal selbständig und drängt sich durch Schlitze und Spalten und bekommt dann unwillkürlich Teile von Beinen, Rücken in flüchtiger Bewegung oder eine schweifende Hand zu sehen). María Teresa nimmt einzelne Stimmen wie auch ganze Unterhaltungen wahr, wenn Männer auf die Toilette gehen, verhalten sie sich offensichtlich anders als Frauen in der gleichen Situation, Frauen sprechen vor oder nach dem, was sie dort tun; das, was sie tun, tun sie jedoch allein, ja sie ziehen sich dabei sogar in sich selbst zurück, blenden die Anwesenheit der anderen aus.Die Männer dagegen, stellt María Teresa sich vor, erleben die Situation in einer eigentümlichen Mischung aus Intimität und Gemeinsamkeit, denn so wie es aussieht, unterbrechen sie ihre Unterhaltungen bei dem, was sie tun, nicht, ja sie sind sogar imstande, zur gleichen Zeit über einen Witz zu lachen, den ihr Nebenmann gemacht hat, oder sich von diesem freundschaftlich auf die Schulter klopfen zu lassen, ja
Weitere Kostenlose Bücher