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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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führt es heran, sie steht immer noch vorgebeugt da, er wird ihr nicht den Strumpf zeigen, nicht seine Unterwerfung unter die Vorschriften des Colegio, an der es nichts auszusetzen gibt, nein, sein Bein, seine Wade, Baragli wird sie bloßlegen, er wird sie für sie bloßlegen, seine Männerwade, seine Männerhaare, einen Hautstreifen zwischen dem Grau der Hosen und dem Blau des Strumpfes. Diesmal wandert der Saum noch höher hinauf, noch mehr Haut wird sichtbar, noch mehr von dem Bein, die ganze Wade, María Teresa ist rot im Gesicht, und sie weiß das auch, sie richtet sich auf, ihr ist ein wenig schwindlig, das verwirrt sie noch mehr, Baragli sieht sie an, mit eingefrorenem Gesichtsausdruck, der vorschriftsmäßige Strumpf und dazu die Haut, diese Haut mit Flecken darauf, ihr Gewebe in allen Einzelheiten, María Teresa ist schwindlig, deshalb dieser Pfeifton, oder dieser Pfeifton, und deshalb ist ihr schwindlig, jedenfalls fühlt sie sich nicht gut.
    »Gut, Baragli. Zurücktreten.«
    Den Rest der Überprüfung führt sie in ziemlich aufgelöstem Zustand durch. Hielte ihr jemand jetzt Strümpfe in einer anderen Farbe entgegen, schwarze oder hellblaue, irgend etwas derart Auffälliges, so würde sie das bemerken, aber Verstöße subtilerer Art, wie den Calcagnos, also Strümpfe nicht aus Nylon, sondern aus Frottee oder Baumwolle, würde sie in diesem Zustand womöglich übersehen. Sie wirft nur noch einen flüchtigen Blick auf die ihr hingehaltenen Beine, sie möchte die Sache rasch zu Ende bringen. Sie fühlt sich nicht gut. Sicher ist sie nicht, aber es kommt ihr doch so vor, als breitete sich unter ihrer Bluse unversehens ein nicht gerade angenehmer Schweiß aus. Allmählich gewinnt sie die Fassung wieder, aber nur ganz allmählich. Das Gefühl, nicht richtig atmen zu können, hört langsam auf, der Pfeifton verschwindet fast ganz, der Schweiß trocknet. Schließlich ist sie am Ende der Reihe angekommen, bei Valenzuela, er hat graue Strümpfe an, und María Teresa ermahnt ihn, mit einer Stimme, die nicht mehr zittern wird, das weiß sie.
    »Ihre Strümpfe, Valenzuela.«
    »Ja, Fräulein Aufseherin.«
    »Sie sind grau, Valenzuela.«
    »Ja, Fräulein Aufseherin.«
    »Sie müssen blau sein, Valenzuela.«
    »Ja, Fräulein Aufseherin. Aber es gab bei uns ein Problem.«
    »Was für ein Problem, Valenzuela?«
    »Unser Wäschetrockner ist kaputtgegangen, Fräulein Aufseherin.«
    »Ihr Wäschetrockner interessiert mich nicht, Valenzuela. Aber die Strümpfe müssen blau sein.«
    »Ja, Fräulein Aufseherin.«
    »Nicht grau, blau.«
    »Ja, Fräulein Aufseherin.«
    »Morgen ist das erledigt.«
    »Ja, Fräulein Aufseherin.«
    »Unbedingt.«
    María Teresa trägt auch Valenzuelas Namen ins Klassenheft ein. Zuvor hatte sie geschrieben: »Calcagno: Frotteestrümpfe.« Jetzt schreibt sie darunter: »Valenzuela: graue Strümpfe.« Jetzt kommt gleich der zweite Teil der Kontrolle. María Teresa hält das wiedergewonnene Gleichgewicht nur mit Mühe aufrecht, was vorhin passiert ist, versteht sie immer noch nicht genau. Vielleicht ein plötzlicher Abfall des Blutdrucks, so was kommt vor, wenn man zu schnell in die Hocke geht beziehungsweise wenn man sich plötzlich wieder aufrichtet, nachdem man eine Zeitlang in der Hocke war. Vielleicht war es das, denkt María Teresa, vielleicht ist sie im Unterzucker, sobald sie ins Aufseherzimmer kommt, will sie sich jedenfalls einen ordentlichen Tee mit Zitrone machen.
    Dieser Gedanke beruhigt sie erst einmal, die Untersuchung geht jedoch weiter, wie der Studienleiter soeben angeordnet hat, und diese Ankündigung läßt ihr Unwohlsein zurückkehren. Die Kontrolle der Haare ist wiederum bei den Mädchen viel einfacher durchzuführen: ein Blick genügt, und schon ist klar, ob die vorgeschriebenen Haarklammern und -spangen vorhanden sind, ob das Haar ordentlich zusammengebunden ist, ob alles so ist, wie es sein soll. Das Haar der Jungen dagegen macht in manchen Fällen eine genauere Untersuchung erforderlich. Laut Vorschrift hat zwischen Hemdkragen und Haaransatz ein Abstand von mindestens vier Zentimetern zu bestehen.Diese Entfernung entspricht zwei aneinandergelegten Fingern einer normal großen Hand. Vielfach ist kein Zweifel möglich, denn dem Auge präsentiert sich ein rigoros ausrasierter Nacken, dessen Erscheinung die Erinnerung an ein abgebranntes Stoppelfeld hervorruft. In einem solchen Fall ist, wie gesagt, jeder Zweifel ausgeschlossen. Ebenso, wenn die Haare bis zum Kragen reichen oder,

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