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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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schlimmer noch, diesen berühren – die Regelwidrigkeit ist dann offensichtlich. Zwischen den beiden Extremen gibt es jedoch eine große Palette von Zwischenformen, Zweifelsfälle, die sich nicht auf den ersten Blick entscheiden lassen. Diese machen ein genaues Nachmessen unausweichlich. María Teresa verspürt augenblicklich wenig Lust, den Nacken eines der Jungen zu berühren. Das würde sie lieber nicht tun. Sagt sie zu sich selbst, während sie darüber nachdenkt und mit geheimem Schrecken Nacken um Nacken und Haarlänge um Haarlänge in Augenschein nimmt. Zu ihrer großen Erleichterung sind Baraglis Haare ganz eindeutig zu lang, wodurch sich eine genauere Untersuchung erübrigt.
    »Baragli, Sie müssen zum Friseur.«
    »Ja, Fräulein Aufseherin.«
    María Teresa notiert: »Baragli, Haare schneiden.« Cascardo, Bosnic, Tapia und Zimenspitz bekommen den gleichen Eintrag. Valenzuela ist der erste, bei dem nicht auf einen Blick alles entschieden ist. Valenzuela ist der letzte in der Reihe. Immer wieder versuchen die Schüler es dreist mit dem gleichen Trick: Sie senken den Kopf und ziehen gleichzeitig hinten ihr Hemd hinunter. Auf diese Weise versuchen sie auf künstliche Weise die vorgeschriebenen vier Zentimeter Abstand herzustellen. So auch Valenzuela, genau in diesem Moment, es will ihm aber nichtso recht gelingen. María Teresa betrachtet ihn und stellt dabei ihre Berechnungen an, gerne würde sie ihn nicht weiter behelligen. Daß zwei ihrer Finger, aneinandergelegt, dorthin passen, in den Raum zwischen Hemdkragen und Haaransatz, ist aber keineswegs ausgemacht. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. María Teresa darf jedoch kein Risiko eingehen. Sollten der Studienleiter oder Herr Biasutto später – oder noch vor Ort – eine Regelwidrigkeit feststellen, wäre sie als die Aufseherin der zehnten Obertertia dafür verantwortlich.
    Sie muß also die im Reglement vorgesehene Maßnahme ergreifen und zu diesem Zweck zwei aneinandergelegte Finger an Valenzuelas Nacken führen. Daß er der größte der Jungen und folglich der letzte in der Reihe ist, hat den Vorteil, daß sich dieser Vorgang vor niemandes Augen abspielen wird – niemand wird unmittelbar Zeuge dessen sein, was María Teresa jetzt macht: Sie tritt an Valenzuela heran, hebt ein wenig die Hand, andernfalls käme sie nicht bis an seinen Nacken, ihre Hand darf dabei aber auf keinen Fall zittern, oder wenn doch, darf Valenzuela es keinesfalls bemerken. Und nun legt sie also die beiden Finger auf den Nacken des Jungen. Es fühlt sich lauwarm an, seltsam, ein feiner Flaum überzieht hier die Haut, Haare kann man das nicht nennen, obwohl es sich eigentlich um Haare handelt, auf jeden Fall ist es weich. Zwei Finger María Teresas, der Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand, auf Valenzuelas Nacken. Der Mittelfinger berührt beinahe, aber eben nur beinahe, das lockige Haar Valenzuelas – es hat etwas von einer Perücke, als wäre es nicht sein Haar. María Teresa darf es nicht zu hastig angehen lassen, die Finger einfach nur auflegen und gleich wieder fortnehmen, das geht nicht –es handelt sich hier um kein Stromkabel oder einen Topf voll kochenden Wassers. Sie darf sich ihr Unbehagen nicht anmerken lassen, die Messung ist in aller Ruhe durchzuführen, es sollen ja keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Die Berührung hält folglich ein bis zwei Sekunden an, vielleicht sogar drei. Dann erst nimmt sie die Finger wieder von der Stelle. Dabei weiß sie bereits, daß Valenzuela weder eine Strafe noch eine Verwarnung zu gewärtigen hat.
    »In Ordnung, Valenzuela. Aber warten Sie nicht zu lange.«
    Den Rest des Tages fühlt sie sich schlecht. Teils gereizt, teils bekümmert, kann sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. In der U-Bahn empfindet sie die Dunkelheit im Tunnel auf einmal als bedrückend, zeitweilig hat sie das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Zu Hause eingetroffen, fühlt sie sich kaum besser, sosehr sie sich danach gesehnt hatte. Die Gesellschaft der Mutter hilft wenig: Sie verbringt die Zeit mit Fernsehen, manchmal hört sie dazu noch Radio, jedenfalls ist sie überreichlich mit Gerüchten versorgt – mit Nachrichten nicht so sehr –, an ihr ist eindeutig eine Spezialistin in Sachen »Diplomatie und internationale Politik« verlorengegangen.
    Als die Mutter um neun Uhr das Abendessen auf den Tisch stellt, hat María Teresa keinen Appetit. Nicht einmal Hunger, kein bißchen. Sie ist aufgewühlt, alles widert sie an. Auf dem Teller

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