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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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das erste von Clausewitz.«
    »Einen Moment, bitte.«
    »Achtes Zitat, das erste von Clausewitz: ›Es gibt keine menschliche Tätigkeit, welche mit dem Zufall so beständig und so allgemein in Berührung stände, als der Krieg.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Es gibt keine menschliche Tätigkeit, … welche mit dem Zufall … so beständig … und so allgemein … in Berührung stände, … als der Krieg.‹«
    »Könnten Sie das bitte wiederholen?«
    »Nein. Schreiben Sie das nachher bei Ihrem Nachbarn ab.«
    »Neuntes Zitat, das zweite von Clausewitz.« Sie diktiert: »›Der Krieg ist ein wahres Chamäleon.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Der Krieg ist … ein wahres … Chamäleon.‹ Zehntes Zitat. Das dritte – und letzte – von Clausewitz: ›Es gibt eine Menge von Kriegen, wo das Handeln bei weitem den geringsten Teil der angewendeten Zeit einnimmt, und der Stillstand den ganzen übrigen.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Es gibt eine Menge von Kriegen, … wo das Handeln … bei weitem … den geringsten Teil … der angewendeten Zeit … einnimmt, … und der Stillstand … den ganzen übrigen.‹«
    María Teresa könnte sich jetzt des Mechanismus bedienen – der so sehr an die Bühnentechnik eines Theaters erinnert –, um den Teil der Tafel, auf dem sie weiterschreiben wird, auf Brusthöhe einzustellen. Statt dessen beugt sie sich hinab. Und so, gebeugt, in einer nicht eben bequemen Körperhaltung, schreibt sie jetzt, in einer aufgrund der unbequemen Haltung nicht ganz so leserlichen Schrift, die Angaben zum letzten Autor der Liste an dieTafel: »Mao Tse-tung. Schriften zum Militär.« Dann trägt sie das elfte Zitat vor: »›Wer sich im Krieg befindet, muß sich von den gewohnten Regeln freimachen und an die des Krieges gewöhnen.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Wer sich im Krieg befindet, … muß sich von den gewohnten Regeln … freimachen … und an die des Krieges … gewöhnen.‹« Schließlich diktiert sie das letzte Zitat der Aufgabe, es ist vom selben Autor: »›Geben wir es zu: Keine gesellschaftliche Erscheinung ist so schwer zu greifen und so ungewiß wie der Krieg.‹« Sie macht eine Pause. Dann sagt sie noch einmal: »›Geben wir es zu: … Keine gesellschaftliche Erscheinung … ist so schwer zu greifen … und so ungewiß … wie der Krieg.‹«
    María Teresa legt das Blatt mit den Zitaten, die Herr Cano vorbereitet hatte, auf den Tisch. An der Tafel steht bereits, was die Schüler zu tun haben.
    »Noch irgendwelche Fragen?«
    Keine Antwort.
    »Noch irgendwelche Fragen?«
    Keine Antwort.
    »Gut. Dann fangen Sie an.«
    Die Schüler senken die Köpfe und beginnen zu schreiben. Manche nehmen eine Weile nachdenklich die Spitzen ihrer Kugelschreiber zwischen die Zähne, ihre Ideen müssen erst noch Gestalt annehmen. María Teresa sieht ihnen dabei zu und verliert sich in eigene Gedanken. So verstreicht der letzte Abschnitt des Schultags.
    Franciscos nächste Karte kommt aus Azul. Die muß er selbst gekauft haben. Und zwar neu, obwohl die Kanten bereits abgestoßen sind, so als hätte jemand sie als Lesezeichen benutzt – für ein dickes Buch –, viel wahrscheinlicherist jedoch, daß die Karte weder hierfür noch für sonst einen Zweck jemals benutzt worden ist; die leichten Knickspuren und die abgestumpften Ecken kommen zweifellos vielmehr davon, daß die Karte über lange Zeit hinweg in der Auslage des Dorfkiosks ihr Dasein gefristet hat, ein Dasein, das davon geprägt war, daß sie zahllose Male prüfend betrachtet und zuletzt wieder verworfen wurde – von einer Heerschar von reisenden Vertretern, Fahrern von Überlandbussen oder Grundschullehrern, die vor Ort eine Vertretungsstelle übernommen hatten.
    Auf der Karte ist der Hauptplatz von Azul zu sehen, etwas anderes kann es nicht sein. In der Mitte erhebt sich, wie es nicht anders sein kann, ein Standbild, es zeigt General José de San Martín, zu Pferde, er deutet auf den Horizont, mit dem ausgestreckten Finger einer Hand, die zu einem Arm gehört, der seinerseits mit einem Schultergelenk verbunden ist. Zu beiden Seiten üppig blühende Blumenrabatten; damit das Photo gefälliger wirkt, sind diese offensichtlich nachkoloriert worden. María Teresa ist darauf eingestellt, auf der Rückseite wiederum nicht mehr als eine Handvoll Worte in der Schrift ihres Bruders vorzufinden. Doch diesmal ist da gar nichts, er hat nichts

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