Sittenlehre
verspüren, im Gegenteil, schon seit langem hatsie sich nicht so frisch und kräftig gefühlt. Sie ist entschlossener denn je, zur Tat zu schreiten.
»Nicht dranhängen, Capelán. Sie sollen sich nicht dranhängen, das ist doch kein Kleiderhaken. Nehmen Sie einfach nur Abstand!«
Sie hat gründlich über ihre Vorgehensweise während des ersten Aufenthaltes auf der Knabentoilette nachgedacht. Dabei hat sie auch ihren Fehler ausfindig gemacht, das Erleben der Toilette außerhalb der regulären Unterrichtszeit hat ihn ihr deutlich vor Augen geführt. Der Fehler bestand darin, die Knabentoilette während der Pausenzeit zu überwachen, ausgehend von der Vorstellung, daß, wer auch immer sich vornimmt, heimlich im Colegio zu rauchen, das zu dieser Zeit tun müsse. Nachdem sie die Toilette nun aber persönlich in leerem, verlassenem, verödetem Zustand erlebt hat, weiß sie, daß sie von einer falschen Annahme ausgegangen ist. Sollte jemand, Baragli zum Beispiel, oder Baragli zusammen mit anderen, im Colegio rauchen – wie sie stark vermutet, seitdem sie von ihrem empfindlichen Geruchsorgan auf diese Spur gebracht worden ist –, so kann er das bloß auf der Toilette tun, das ist richtig, ein anderer Ort ist dafür nicht vorstellbar, er kann es allerdings nicht während der Pausenzeit tun, wie sie zunächst angenommen hat, denn dann sind dort zahlreiche Schüler unterwegs und die würden es bemerken; wer sich aber vornimmt, bewußt gegen die Vorschriften zu verstoßen, wird sich schwerlich Zeugen in solcher Zahl hinzuwünschen. Wer auf der Toilette raucht, Baragli zum Beispiel oder wer auch immer, muß dies während der Unterrichtszeit tun, das heißt, wenn Gänge und Toiletten leer oder nahezu leer sind, indes die Lehrer vor den Schülern stehen und Unterricht erteilen und die Aufseherin ihrem Dienstzimmer ihren sonstigen Obliegenheiten nachkommen. Dann – nur so kann das funktionieren – heben die betreffenden Schüler im Klassenzimmer die Hand, was der Lehrer sieht, woraufhin er fragt, ob sie etwas nicht verstanden hätten, woraufhin diese Schüler antworten, nein, sie hätten verstanden, sie hätten jedoch das Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen, um ein dringendes Bedürfnis zu erledigen. Eigentlich widerstrebt es den Lehrern, das Verlassen des Klassenraums außerhalb der Pausenzeit zu gestatten, manche lassen dies auch unter keinerlei Umständen zu; es kommt jedoch vor, daß ein Toilettengang trotzdem gewährt wird, woraufhin der betreffende Schüler aufsteht und hinausgeht.
Nach dieser Erkenntnis ändert María Teresa ihre Strategie. Während der Pausenzeit schenkt sie den Toiletten keine besondere Aufmerksamkeit mehr – das ist nicht nötig. Dafür trifft sie ihre bislang wichtigste Entscheidung – und ist sich dabei sicher, daß es die richtige ist. Eines Nachmittags, irgendwann nach der ersten Pause, das heißt, während der dritten Unterrichtsstunde, schlüpft sie unbemerkt aus dem Dienstzimmer, huscht wie ein Schatten durch den einsam daliegenden Gang und betritt zuversichtlich die Knabentoilette. Diesen Ort kennt sie ja bereits, die Umstände freilich unterscheiden sich grundlegend: Jetzt ist es mehr als wahrscheinlich, für sie sogar sicher, daß ein Schüler diesen Ort aufsuchen wird. Deshalb schließt sie sich unverzüglich in einer der Kabinen ein; sie verriegelt die Tür und macht sich daran, zu warten. Während die Minuten verstreichen, wird sie immer nervöser. Indem sie auf das quietschende Geräusch lauscht, das zu hören ist, sobald sich die Schwingtür in Bewegung setzt, nimmt ihre Anspannung zu – denn in diesem Fallwäre es soweit, für ihren Diensteifer hätte die Stunde der Wahrheit geschlagen: Ein Schüler betritt die Toilette, und María Teresa, seine Aufseherin oder seine Wärterin, wie man auch sagen könnte, wird nun darüber wachen, daß er sich korrekt benimmt, freilich ohne daß er etwas davon bemerkt.
Solange sie Wache steht, kommt niemand in die Toilette, sie läßt sich dadurch freilich nicht entmutigen. Es handelt sich ja, das weiß sie selbst, nur um einen ersten Versuch; sie hat nie behauptet, während der Unterrichtszeit gebe es einen beständigen Strom von Schülern, die die Toilette aufsuchen, wie dort natürlich auch nicht unaufhörlich der Versuch unternommen wird, durch Rauchen die Ordnung herauszufordern. Sie ist hinter der Ausnahme her, nicht hinter der Regel (worauf sie es eigentlich abgesehen hat, ist ja nicht mehr und nicht weniger als die Überschreitung der
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