Sittenlehre
Ansprache; er trägt Zivilkleidung: dunkelgrauer Anzug und dazu passende Krawatte unter einem von der Feuchtigkeit glänzenden Regenmantel. Seine Stimme hallt über den Platz. Es fehlt nicht an Leuten, die sich vom Feuer seiner Rede mitreißen lassen.
María Teresa putzt ihre Brille mit einem kleinen orangefarbenen Läppchen, es gelingt ihr aber nicht, die Gläser so sauber zu bekommen, wie sie es gerne hätte. Sie setzt die Brille wieder auf und hat den Eindruck, Nebel sei aufgezogen.Durch diesen leichten Schleier, den sie mit sich herumträgt, betrachtet sie weiter die Schüler der zehnten Obertertia. Sie wundert sich über ihren Anblick, sie sind angetreten wie immer, mit ihren Uniformen und wenig ausdrucksvollen Gesichtern, aber nicht im Colegio, nicht auf dem Gang oder im Klassenzimmer, sondern unter freiem Himmel, Wind und Wetter ausgesetzt. Sie beginnt sich davonzuträumen, bis sie von dem wiederholten Ausruf »Es lebe das Vaterland!« wachgerüttelt wird.
Die Veranstaltung geht zu Ende, und die Menschenansammlung löst sich allmählich auf. Zwar bleibt die Wolkendecke geschlossen, dennoch hellt der Himmel auf. María Teresa sieht, daß Herr Biasutto auf sie zukommt. Er macht einen so entschlossenen Eindruck, daß sie das Gefühl hat, er wolle ihr etwas sagen. Das macht er aber nicht, er sagt kein Wort. Er bleibt in ihrer Nähe stehen und beschränkt sich darauf, ihr mit den Augenbrauen oder der Stirn ein Zeichen zu geben, es soll wohl besagen, daß alles in Ordnung ist. Sie deutet ein verständnisvolles Lächeln an.
Die Schüler des Colegio harren auf ihrem Posten aus, schweigsame Zeugen des langsamen Verschwindens der Männer mit den violetten Aufschlägen oder olivgrünen Mützen, der Damen mit Halstüchern, der Fahnenschwenker mit den kleinen Plastikflaggen. Erst dann erhalten sie Anweisung, in gleichmäßigem Schritt und sich immer schön rechts haltend den Rückweg ins Colegio anzutreten. Dabei sollen sie sich im Geiste ein zackiges Linksrechts, Links-rechts vorsprechen (das heißt, sie sollen es denken, aber nicht aussprechen, wie das Eins-zwei-drei, Eins-zwei-drei, wenn man im Tanzkurs auf der blank polierten Tanzfläche eine neue Schrittfolge ausprobiert);auf diese Weise soll es ihnen gelingen, immer zu zweien in völligem Gleichmaß nebeneinander herzugehen.
Auf der Schultreppe stehend, überwachen die Aufseher den Einzug der Schüler. Diese kommen gruppenweise herauf, Klasse für Klasse. Bei der Gelegenheit nähert Herr Biasutto sich erneut María Teresa. Er will ihr so offensichtlich etwas mitteilen, daß sie ihm den Kopf zuwendet und ihn erwartungsvoll ansieht. Doch da senkt er den Blick, preßt die Hände aneinander, sein dichter Schnurrbart zittert – und er sagt nichts. María Teresa begreift, daß sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt hat, und wendet den Blick rasch wieder den Schülern zu, genau in dem Moment, in dem sich die der zehnten Obertertia daranmachen, die grauen Stufen hinaufzusteigen.
Am Abend stellt Teresa fest, daß sie, nachdem sie sich dem kalten Wind und dem Herbstregen ausgesetzt hat, nun endgültig erkältet ist. Deshalb verbringt sie das Wochenende im Bett, zeitweilig von Fieber geschüttelt. Sie hustet und niest, ihr Hals ist belegt, und die ständig verstopfte Nase läßt sie nicht einschlafen. Die Mutter verbringt derweil die Zeit im Wohnzimmer mit Fernsehen und Radiohören; schon seit Tagen bedient sie sich einer ausgefeilten Schiffstechnikterminologie. Zwei Postkarten von Francisco treffen ein, am gleichen Tag, allerdings in verschiedenen Umschlägen. Er muß sie mit einem mehrtägigen Abstand losgeschickt haben, zum Beispiel die eine an einem Donnerstag und die andere am darauffolgenden Dienstag oder die eine an einem Montag und die andere am Montag der Woche darauf, also im Abstand einer Woche; aber die Post in Azul, oder die Poststelle der Kaserne in Azul, sammelt Briefe offenbar immer erst eine Zeitlang an, ehe sie sie dann in einem großenSchwung weiterleitet, wodurch sich die Tatsache, daß sie an verschiedenen Tagen abgefaßt worden sind, aufhebt beziehungsweise diese Tage zu einem einzigen verschmelzen, an dem all diese Briefe zusammen auf den Weg gebracht werden.
Auf beiden Karten ist das bereits bekannte Motiv abgebildet, die Statue von General San Martín auf dem Hauptplatz von Azul. Dennoch sind sie nicht völlig gleich, auf der einen sind die Farben nämlich ziemlich verblichen, so als wäre die entsprechende Aufnahme an einem bewölkten Tag
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