Sittenlehre
wird, desto besser kann sie damit umgehen, ja man könnte sagen, irgendwann fühlt sie sich tatsächlich gut bei dem, was sie da macht. Sich selbst erklärt sie es mit einfachen Argumenten: Sie erfüllt nur ihre Pflicht als Aufseherin, ohne irgendwelche Abstriche, und dafür wird sie an dem Tag, an dem sie schließlich die Früchte ihres Einsatzes erntet und einen Schüler beim Rauchen im Colegio erwischt, vor ihren Kollegen, insbesondere aber vor Herrn Biasutto, im besten Licht erscheinen.
Manchmal ist sie mit anderen Dingen beschäftigt, zum Beispiel muß sie in der zehnten Obertertia die Anwesenheitsliste durchgehen oder überwachen, daß alle korrekt angetreten sind, oder die Schüler anweisen, sich neben den Pulten aufzustellen, weil gleich der Lehrer die Klasse betreten wird; hierbei verspürt sie eine leise Unruhe: Sie möchte, daß endlich der Unterricht beginnt und der Augenblick kommt, in dem sie zu ihrem nächsten Ausflug in die Knabentoilette aufbrechen kann. Eigentlich sehnt sie diesen Augenblick schon seit dem Morgen herbei; noch wenn sie zu Hause ist und ins Colegio aufbrechen muß, um sich den Herausforderungen eines neuen Arbeitstages zu stellen, denkt sie daran. Alles mögliche wird an diesem Tag geschehen, interessante und andere, zumeist wohl eher weniger interessante, ja gleichgültige Dinge; doch unter alledem wartet auch der Moment – Teresa erwartet ihn jeden Tag sehnlicher –, in dem es ihr möglich sein wird, in die Knabentoilette zu schlüpfen und dort gewissermaßen – wenn auch nur im übertragenen Sinne – sprungbereit zusammengekauert auszuharren. Diese Minuten des Wartens und Lauerns in ihrem Versteck werden schon bald zu dem Punkt, um den sichihr gesamter Arbeitstag im Colegio dreht. Was auch immer davor geschieht, kommt ihr nur noch wie eine Art Vorspiel vor – das langwierige Warten auf das, worauf es ihr eigentlich ankommt. Und was auch immer danach geschieht, es ist wie ein bloßes Nachspiel – ein Nachspiel zu etwas bereits Geschehenem, das nichts Wesentliches mehr beitragen wird.
Der einzige Nachteil ist dabei – aus ihrer Sicht –, daß sie viel seltener mit Herrn Biasutto zusammentrifft. Indem sie sich weniger häufig im Aufseherzimmer aufhält, wo der Chef der Aufseher am regelmäßigsten den Austausch mit seinen Untergebenen pflegt, hat sie auch weniger Gelegenheit dazu, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, die über die üblichen Begrüßungs- und Höflichkeitsfloskeln hinausgehen. Dennoch ist sie sicher, daß in diesen Tagen ihre wichtigste Aufgabe im Colegio darin besteht, sich unablässig der Überwachung der Toiletten zu widmen, selbst im Hinblick auf ihre Beziehung zu Herrn Biasutto, denn ein glücklicher Ausgang ihrer hartnäckigen Überwachungsarbeit wird schließlich ein Grund dafür sein, daß seine Wertschätzung ihrer Person zunimmt und ihre Beziehung sich vertieft. Grund genug, um das Gefühl zu haben, was auch immer ihr sonst geschehen könne, sei in Wirklichkeit bloß zweitrangig. Einzig während sie sich in der Knabentoilette versteckt hält, fühlt María Teresa sich nützlich, und aus nichts anderem bezieht sie ihre Kraft.
Wachträume
Die Schüler, die auf der Toilette rauchen – Baragli und wer auch immer, Baragli oder wer auch immer –, machen dies zweifellos im Schutz der Kabinen. Daß sie bei den Pissoirs rauchen, ist schwer vorstellbar, eigentlich ausgeschlossen. Den in diesem Bereich ausgeatmeten Rauch könnte man nicht bloß riechen, man könnte ihn von draußen auf dem Gang auch ohne weiteres sehen. Allerdings beschränkt sich der Großteil der Schüler, die die Toilette aufsuchen, auf die Benutzung der Pissoirs. Manche kommen auch nur, um sich das Gesicht zu waschen: Sie beugen sich über eins der Waschbecken, lassen Wasser in die aneinandergelegten Hände laufen und erfrischen sich Augen und Wangen, offenkundig – denn heiß ist es hier nicht –, um die Müdigkeit zu verscheuchen und mit wacheren Sinnen in die Klasse zurückzukehren.
Einige Tage vergehen, bis endlich ein Schüler hereinkommt und sich in eine der Kabinen begibt. Er entscheidet sich just für die neben María Teresa. Im ersten Moment verstärkt diese noch ihre Wachsamkeit: Sie macht sich bereit, das Anreißen eines Streichholzes wahrzunehmen, das Aufleuchten der Flamme, den ersten Zug an der Zigarette, den ersten Rauchkringel, der sich emporschlängelt, bis die Decke ihm Einhalt gebietet. Bald jedoch muß sie einsehen, daß der Schüler nicht mit diesem Vorsatz
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