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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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am Tag des historischen Ereignisses, sprich: am 25. Mai 1810, nicht anders, und niemand scherte sich darum.
    María Teresas Brillengläser beschlagen. Sie putzt sie in regelmäßigen Abständen, um sicherzugehen, daß sie gut sehen kann. Wie immer ist sie vor allem für die Schüler der zehnten Obertertia zuständig. Die von Herrn Biasutto, jede Silbe einzeln betonend, ausgegebene Parole für die versammelte Aufseherschaft, deren Anführer er ist, lautete jedoch Je-der-küm-mert-sich-um-je-den. Befürchtungen, es könne zu unpassendem Betragen oder sonst irgendeiner Art von Disziplinlosigkeit kommen, bestehen nicht – die Schüler des Colegio sind so von vaterländischer Gesinnung erfüllt, daß nicht zu erwarten steht, sie könnten sich anders als angemessen benehmen. Bekanntlich werden jedoch auch Journalisten von der Veranstaltung auf dem Platz berichten, und zwar nicht nur Journalisten einheimischer Medien wie etwa der Illustrierten Gente oder der Wochenzeitung Somos oder der Tageszeitung La Nación (die einst von Bartolomé Mitre begründet wurde, dem Gründer auch des Colegio), sondern ebenfalls Journalisten aus dem Ausland, zum Beispiel aus Frankreich oder Holland, die hier als Korrespondenten tätig sind. Die Schüler des Colegio sind vor allem darauf trainiert, stets Wissensdurst zu verspüren, ebenso ist es ihnen aber in Fleisch und Blut übergegangen, stolz auf das bereits erworbene Wissen zu sein. Alle empfangen sie die vorgeschriebene Anzahl von Unterrichtsstundenin Englisch oder Französisch (wer vom ersten bis zum vierten Jahr Englisch gewählt hat, hat im fünften und sechsten Jahr Französisch, und umgekehrt). Für gewöhnlich üben sie ihre Fremdsprachen mit Miss Soria beziehungsweise mit Mademoiselle Hourcade. Als die Schüler erfuhren, daß an der Veranstaltung am 25. Mai auch ausländische Journalisten teilnehmen würden, waren viele von ihnen begeistert von der Aussicht, diese Sprachen einmal mit anderen Muttersprachlern anwenden zu können, also Französisch mit Franzosen und Englisch mit Engländern. Zweifellos liegt diesem Bestreben ein sehr ehrenvoller Antrieb zugrunde, der der Begeisterung entspricht, mit der die Stunden in Chemie, Physik oder Biologie wahrgenommen werden, in denen es zu praktischen Anwendungen des Stoffes kommt. Die stets wachsamen Aufseher jedoch meldeten diese Äußerungen, kaum daß sie Wind davon bekommen hatten, Herrn Biasutto, der sie umgehend an den Studienleiter weitergab, welcher sie seinerseits dem Vizerektor mitteilte, der zur Zeit die Schulleitung innehat. Und der Vizerektor suchte persönlich Klasse um Klasse auf, um den Schülern in einfachen, aber beredten Worten klarzumachen, daß von der notwendigen Aufrichtigkeit der ausländischen Journalisten leider nicht selbstverständlich ausgegangen werden könne; ihre wie beiläufig gestellten Fragen könnten den Anschein erwecken, sie würden in der besten Absicht gestellt, für die Berichte, die sie anschließend in den Nachrichtenorganen ihrer jeweiligen Heimatländer veröffentlichten, verstehe sich dies jedoch keineswegs von selbst; Erklärungen, die wer auch immer von ihnen in aller Unschuld im Angesicht des roten Lämpchens eines Aufnahmegerätes abgebe, erführen anschließend möglicherweise – diese Befürchtungsei nur zu begründet – schwerwiegende sinnentstellende Veränderungen, einzig in der üblen Absicht, das Ansehen Argentiniens vor der Welt herabzusetzen. Aus diesem Grunde erteilte die Schulleitung die ausdrückliche Anordnung, keinerlei Kontakt zu Vertretern der ausländischen Presse aufzunehmen.
    Die Schüler des Colegio sind auf dem Platz angetreten, das Gesicht dem Stadthaus zugewandt, und die Aufseher achten wie befohlen darauf, daß alles fein säuberlich abläuft wie vorgesehen. Mehrere Personen mit Lederjacke und Regenschirm nähern sich ihnen.
    » Qu’est-ce que vous pensez de la guerre? «
    Die Schüler des Colegio antworten nicht. Sie lächeln oder grüßen oder tun so, als hätten sie nicht gehört, eine Antwort auf die Frage geben sie jedoch nicht.
    Als es soweit ist, wird die argentinische Nationalhymne angestimmt. Die Akkorde, die die Stimmen begleiten, stammen diesmal nicht von einer schon seit langem von einer Nadel mißhandelten Schallplatte, sie werden vielmehr schwungvoll vom Bläserkorps der berittenen Grenadierseinheit General San Martín vorgetragen. Der Nieselregen setzt aus, nicht so jedoch der Wind. Im Anschluß hält ein Beamter eine nicht weniger schwungvolle

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