Sittenlehre
erschienen ist, im Gegenteil, er tut nur das Nächstliegende; woraufhin sie eine entschlossene Kehrtwendungvollzieht und versucht, jede mögliche – selbst unfreiwillige – Geruchs- oder Geräuschwahrnehmung zu unterbinden. Statt dessen richtet sie ihre ganze Aufmerksamkeit nun darauf, mitzubekommen, ob der Schüler sich mit Seife die Hände wäscht, bevor er die Toilette verläßt und in seine Klasse zurückkehrt – was er tatsächlich macht.
Komisch: Klar ist, daß ihre Hoffnungen, die heimlichen Raucher des Colegio ausfindig zu machen, von den Schülern abhängen, die die Kabinen aufsuchen, und nicht von denen, die lediglich an eins der Pissoirs treten. Trotzdem befällt sie eine Art Enttäuschung, sobald sich herausstellt, daß ein Schüler, der in die Toilette gekommen ist, sich tatsächlich in eine Kabine begibt, statt sich vor einem Pissoir aufzustellen. Sie erklärt es sich ungefähr so: Jeder, der eine Kabine betritt, dort aber nicht raucht – bis jetzt haben alle es so gehalten –, bringt sie dafür in eine ziemlich unangenehme Situation: Sie wird gezwungen, an dem unschönen Geruch und den nicht weniger unschönen Geräuschen teilzuhaben, die ein derart drängendes Bedürfnis hervorruft (nicht viel besser ist es, wenn jemand diesen Ort aufsucht, um sich zu übergeben). Diejenigen, die zum Pinkeln kommen – wodurch automatisch die Möglichkeit ausgeschlossen wird, sie könnten anfangen zu rauchen, und damit auch die Hoffnung, sie könnte sie dabei erwischen –, bereiten ihr dagegen ein gewisses, wenn auch sehr vages und nur in ganz geringem Maße eingestandenes Wohlgefühl: María Teresa hat längst festgestellt, daß sie in dem Moment, in dem die Schüler anfangen zu pinkeln, von einem seltsamen Kribbeln erfaßt wird, was sie umgehend der Tatsache zuschreibt, daß in ihr eben das Bedürfnis zu pinkeln erwacht, sobald sie mitbekommt, daß jemand anderes dies macht. So ähnlich, wiewenn jemand gähnt: Bekanntlich reicht es, jemanden gähnen zu sehen, um unverzüglich selbst zu gähnen. Und mit dem Lachen ist es auch nicht anders: Wenn die anderen lachen, fängt man selbst zu lachen an, auch wenn man gar nicht weiß, warum.
Es kommt jedoch der Tag, an dem sie wirklich das Bedürfnis zu pinkeln verspürt, allerdings ist es ganz anders als sonst. Darum kümmert sich María Teresa aber nicht. Wie schon andere Male wird sie Zeugin, wie ein Schüler sich entleert; teils nimmt sie es wahr, teils ergänzt sie die Wahrnehmung durch ihre Vorstellungskraft, und dabei spürt sie plötzlich selbst ein drängendes Bedürfnis. Sie möchte Wasser lassen. Ja auf einmal hat sie Angst, sie könnte sich in die Hosen machen. Mühsam widersteht sie, bis der Schüler hinausgegangen ist, preßt die Schenkel zusammen, versucht an etwas anderes zu denken. Nicht besser wird es dadurch, daß der Schüler so lange braucht; er ist einer von denen, die es ganz genau nehmen, und wäscht sich sogar die Hände. Als er endlich die Toilette verläßt, sagt sich María Teresa, nichts wie hinterher, so schnell wie möglich – doch da fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie ist ja schon auf einer Toilette, sollte sie also den Wunsch verspüren, sich zu erleichtern, bitte schön, wo, wenn nicht hier! Zugegeben, etwas zum Draufsetzen wäre nicht schlecht, und auch das Papier könnte besser sein. Trotzdem, Toilette ist Toilette. Jedenfalls lohnt es nicht, dafür das Risiko einzugehen, sich erwischen zu lassen, indem sie überstürzt auf den Gang hinaustritt. Sie besieht sich das Keramikelement und faßt einen Entschluß: Sie wird hier pinkeln, auf der Knabentoilette. Die Idee gefällt ihr, sie lächelt – weil sie so rasch einen Ausweg gefunden hat, wie sie sich sagt.
Sie hebt ihren langen karierten Rock an, zumindest ein Stück, das muß sein. Dann zieht sie den Schlüpfer fast bis zu den Knien hinunter. Die Stellung ist jedoch so ungewohnt, daß sie Angst hat, beim Pinkeln könne er naß werden. Also zieht sie ihn noch weiter hinunter, fast bis zu den Knöcheln, aber dadurch wird die Gefahr, ihn naß zu machen oder wenigstens zu bespritzen, nur noch größer. Nach langem Zögern ringt sie sich dazu durch, den Schlüpfer auszuziehen. Sie hält ihn jetzt, zu einer Kugel zusammengeknüllt, in der rechten Hand, das Ganze sieht aus wie ein Blumenstrauß, von dem jemand die Blüten abgerissen hat, wie ein Unterpfand, von dem sie sich nicht trennen kann. Der Schlüpfer ist rosa und hat einen Spitzensaum. Noch nie hat sie ihre eigene
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