Sittenlehre
Regel), und dazu sind ihrerseits Geduld wie auch Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen gefragt. Im Wissen hierum sucht sie diesen Ort mehrere Tage hintereinander und zu verschiedenen Uhrzeiten auf. Allmählich wird es ihr geradezu zur Gewohnheit, sich hier aufzuhalten. Und ihr Bemühen erfährt schließlich eine erste, wenn auch nicht vollwertige Belohnung. Noch erwischt sie niemanden auf frischer Tat beim Rauchen; aber von ihrem versteckten Posten aus gewinnt sie einen immer genaueren Überblick über das Kommen und Gehen der Schüler an diesem Ort. Eines Tages hört sie schließlich, daß jemand hineinkommt. Sie hört, wie die Türe auf- und wieder zugeht, hört sie hin und her schwingen, hört die Schritte des Schülers. Es sind nur wenige Schritte, nicht mehr als zwei oder drei, so viele, wie nötig sind, um von der Tür bis zum ersten Pissoirzu gelangen. María Teresa preßt sich an die Wand und versucht, den Atem anzuhalten. Sie hört, sie spürt alles: Der Schüler hat sich vor eins der Pissoirs gestellt, die sie mittlerweile so genau kennt. Er macht den Gürtel auf, öffnet den Reißverschluß. Jetzt muß er dabeisein, dieses Ding da vorn herauszuholen, jetzt hält er es bereits zwischen den Fingern. Sie atmet immer noch kaum, um sich nicht zu verraten, sie ahnt allerdings, daß dies nicht der einzige Grund dafür ist, daß ihr allmählich die Luft ausgeht. Jetzt hört sie deutlich das Fließgeräusch des hervorströmenden Urins, der auf die weiße Oberfläche auftrifft und sich von da dem Auffangbecken entgegenschlängelt. Als das Geräusch verstummt, fällt ihr ein – ihr Vater forderte ihren Bruder, als sie noch Kinder waren, immer dazu auf –, daß die Männer dieses Ding da vorn zuletzt immer schütteln, damit kein Tropfen auf die Hose fällt, wenn sie es anschließend wieder verstauen. Damit muß der Schüler gerade beschäftigt sein, dieses Männerteil also sanft beklopfen oder kreisen lassen, während sie, sie weiß selbst nicht, warum, die Augen zumacht, vielleicht vermittelt ihr die Tatsache, nichts zu sehen, das so wichtige Gefühl, ihrerseits vor anderen Blicken geschützt zu sein. Danach steckt, faltet, tütet der Schüler jenes Ding wieder in die Enge der Unterhose, der Reißverschluß, der zuvor aufgezogen wurde, wird zugezogen, der zuvor geöffnete Gürtel wird verschlossen, aufs Händewaschen, wie es die Hygiene verlangt, verzichtet der Schüler, er macht statt dessen drei Schritte, genau wie davor, doch jetzt in Gegenrichtung, drückt die Tür auf und geht hinaus.
María Teresas Hände und Knie zittern noch eine Weile. Obwohl es so kalt ist, hat sie ein wenig geschwitzt. Es muß an der Furcht davor liegen – meint sie selbst –, entdecktzu werden, während doch eigentlich sie diejenige ist, die es auf eine Entdeckung abgesehen hat; mit der Zeit dürfte sie sich jedoch an die Sicherheit ihres Verstecks gewöhnen, nimmt sie an. Denn in der Tat kommen und gehen die Schüler, ohne auch nur im geringsten Verdacht zu schöpfen. Sie betreten die Toilette, erledigen ihr Geschäft und gehen wieder hinaus – keiner kommt auf den Gedanken, sich zuvor umzusehen, ja den Teil der Toilette, den er nicht benutzen wird, genauer in Augenschein zu nehmen. Nur wer diesen Ort aufsucht, um zu rauchen, würde womöglich die eine oder andere Vorsichtsmaßnahme treffen, die sich jedoch zweifellos darauf beschränken würde, sich zu vergewissern, daß sich kein Lehrer oder Aufseher in der Nähe der Toilette aufhält; niemals würde dagegen die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß sich ein Lehrer oder Erzieher – im letzteren Falle sie – im Inneren der Toilette aufhalten könnte. Wie auch immer, bis jetzt ist jedenfalls noch kein Schüler dort erschienen, um zu rauchen.
Es wundert sich aber auch niemand darüber, daß sie sich nun viel weniger häufig im Aufseherzimmer aufhält, nicht einmal Herrn Biasutto fällt es auf, schließlich ist es nur normal, daß ein Aufseher in Erfüllung seiner verschiedenen Aufgaben häufig unterwegs ist. Während der Unterrichtszeit ist es auf den Gängen so ruhig, daß María Teresa immer unbekümmerter in der Knabentoilette ein und aus geht. Die Angst, überrascht zu werden, ist so gut wie verflogen. Ist sie erst einmal drinnen und hat sich dort in einer der Kabinen eingeschlossen, fühlt sie sich vollkommen sicher. Manchmal spielen die Nerven ihr noch einen Streich, vor allem wenn ein Schüler hereinkommt, je öfter das Ganze sich jedoch wiederholt undzur Gewohnheit
Weitere Kostenlose Bücher