Sittenlehre
entstanden (daran liegt es aber nicht; diese Karte war im Gegenteil, im Unterschied zur anderen, lange in einer selten neu gestalteten Auslage dem Sonnenlicht ausgesetzt, und bekanntlich verblassen die Farben mit der Zeit unter der Einwirkung dieses Lichts). Auf die Rückseite der ersten Postkarte hat Francisco seinen Vor- und Nachnamen geschrieben, auf die der anderen, später abgeschickten bloß seinen Vornamen.
María Teresa bewahrt die Postkarten in der Schreibtischschublade auf, zwischen Heiligenbildchen und Familienfotos aus ihrer Kinderzeit. Während sie die Erkältung auskuriert, sieht sie das alles immer wieder durch, liest die Karten, als wären es lange Briefe, die ausführlich eine Geschichte erzählen. Sie weint und betet, manchmal für den Frieden, manchmal für den Sieg, und immer für ihren Bruder. Den Rest der Zeit verbringt sie mit Dösen, und wenn sie sich ein wenig besser fühlt, steht sie auf und leistet der Mutter Gesellschaft. Sie sehen zusammen fern und tauschen sich dabei gelegentlich über das Gesehene aus.
»Was soll ich sagen, Marita, ich habe das Meer noch nie gemocht.«
Nachmittags spielen sie Rommé, und die Mutter gewinnt. Sie gewinnt, weil sie den besseren Riecher hat, aber auch wegen ihres hervorragenden Gedächtnisses für Karten, die schon vorgekommen sind. Im Hintergrund laufen ununterbrochen der Fernseher und das Radio. Im Fernsehen wird eine lange Sendung übertragen, die dem Zweck dient, Spenden zu sammeln, häufig kommt es zu Tränen und zur Übergabe von Schmuck, so wie damals, als die Damen der besseren Gesellschaft von Mendoza ihren historischen Beitrag zur Befreiungskampagne von General San Martín leisteten; im Radio dagegen lösen Lieder und Interviews mit herausragenden Persönlichkeiten der Nation einander ab, letztere reden bewegt von Heldentum und Kälte.
Am Abend läutet das Telefon. Das kommt bei ihnen selten vor, weder María Teresa noch ihre Mutter pflegen feste Freundschaften; Francisco schon, aber der ist nicht da. Deshalb ruft in diesen Tagen nie jemand an. Das Läuten erschreckt Mutter und Tochter.
»Wer kann das sein?«
Die Mutter zuckt die Achseln.
»Geh du dran, Marita.«
Sie verhalten sich, als ob der einzige Grund für einen Anruf etwas Schlechtes sein könnte. María Teresa streicht mit beiden Händen ihr Haar zurecht, bevor sie den Hörer abnimmt. Die Mutter blickt sie erwartungsvoll an. María Teresa sieht erschrocken aus, doch sobald sie am anderen Ende die bekannte Stimme hört, die sie durch ein Gewirr von Pfeiftönen begrüßt, wandelt sich ihr Gesichtsausdruck, und es zeichnet sich Freude darauf ab. Francisco ist am Apparat, er ruft aus dem Süden an. Er hat sich ein paar Telefonmünzen beschaffen können, aber es istein Fernruf, deshalb müssen sie die kurze Zeit nutzen, die ihnen zur Verfügung steht. Der Bruder sagt, es geht ihm gut, er ist nicht mehr in Azul, sondern in Bahía Blanca, und es geht ihm gut; er will aber nicht über sich reden, sondern er fragt nach ihnen, nach der Mutter und der Schwester, von seinem neuen Leben gibt es nichts zu erzählen, sie sollen erzählen. Da erzählt María Teresa, was in diesen Tagen so alles im Fernsehen und im Radio kommt; sie spricht überstürzt, durch die Überraschung ist sie ein wenig aufgeregt, sie kommt durcheinander und reicht den Hörer plötzlich – in der Eile vergißt sie fast, sich zu verabschieden – an die Mutter weiter. Die Mutter nutzt die verbleibende Zeit, bis ein Klicken zu hören ist und gleich danach das Besetztzeichen, um Dutzende von Ratschlägen zu erteilen: was die richtige Kleidung angeht, die Ernährung, Fieber, die Freunde, das Rauchen, das nächtliche Heulen des Windes, die Vorgesetzten und den Gehorsam und die Vorteile eines ausreichenden Nachtschlafes. Beim Sprechen weint sie nicht, und auch nicht, als der Anruf zu Ende ist und sie nur noch den Hörer auflegen kann. Sie weint überhaupt wenig in diesen Tagen, manchmal fast gar nicht, viel weniger jedenfalls als während der Zeit, die Francisco in Villa Martelli zugebracht hat. Dafür weiß sie in allen Fragen der Seefahrt immer besser Bescheid, ständig spricht sie von Meilen oder Knoten, Ausdrücke, die sie früher nie benutzt hat.
Die Ruhetage erlauben es Teresa, die Erkrankung zu überwinden oder vielmehr zu umschiffen, schließlich war sie strenggenommen ja noch gar nicht richtig krank. Am Montag geht sie jedenfalls wieder ins Colegio, ohne irgendwelche Folgen oder Nachwirkungen ihres Unwohlseins zu
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