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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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einer Pflicht nach, manchmal auch gar keinen, nicht einen einzigen, dann ist sie trocken wie die Vorschriften. Was ihr aber überhauptnichts ausmacht, wie es sie auch nicht dazu bringt, sich irgendwelche Fragen zu stellen. Das Ganze ist für sie zu einer Art Zeitvertreib geworden, es gehört jetzt einfach mit dazu, wenn sie im Colegio ist, inzwischen ist es bloße Routine. Daß sie die Frucht ihrer hartnäckigen Verfolgung in Gestalt einer Bestrafung derjenigen, die gegen die Vorschriften verstoßen, noch immer nicht erhalten hat, macht ihr nichts aus. Die Tage vergehen, doch nie kommt jemand auf die Toilette, um dort im verborgenen zu rauchen. Manchmal hat derjenige, der hereinkommt, überhaupt keinen Grund dafür, das merkt sie, und auch das ist ein Verstoß gegen die Vorschriften, aber um diesen Verstoß geht es ihr nicht. Manche betreten also die Toilette und machen nichts, bestenfalls lassen sie ein klein wenig Wasser ab, um nicht aufzufallen, sind sie doch in Wirklichkeit erschienen, um ein Weilchen nicht im Klassenzimmer zu sitzen und sich eine Pause zu verschaffen. María Teresa spürt ihre Bewegungen: Sie kommen herein, gehen einmal vor den Waschbecken auf und ab, treten gelangweilt an die Pissoirs. Öffnen den Reißverschluß, suchen eine Weile und holen dann ihre Dinger hervor, geben unvermutet ein paar bescheidene Spritzer von sich, schütteln ab, legen zurecht, machen wieder zu, waschen sich die Hände – die, die bloß herkommen, um Zeit totzuschlagen, waschen sich zum Schluß jedesmal die Hände.
    Eines Nachmittags kommt ein Junge auf die Toilette und begibt sich in die zweite Kabine. Er ist nicht gekommen, um hier zu rauchen, und er raucht auch nicht. Keinerlei Geruch geht von ihm aus, weder nach einem angeriebenen Streichholz noch nach verbranntem Tabak. Genausowenig jedoch die fatalen Gerüche einer dickflüssigerenEntleerung. Keinerlei Geruch. María Teresa auf Horchposten, so nah wie sie nun einmal dran ist, weiß, daß der Junge die Hose hinuntergelassen hat; dagegen ahnt sie nur – allerdings dürfte an diesem Ort mittlerweile nichts einer Gewißheit näher kommen als eine Ahnung María Teresas –, daß das Ding von diesem Jungen bereits draußen ist. Hervorströmender Urin ist jedoch nicht zu hören, ebensowenig wie das Ausscheiden festerer Körperinhalte. Zu hören ist dafür die Atmung des Schülers, jawohl, man hört seine Atmung ungewöhnlich deutlich, und das gefällt María Teresa. Sie riecht nichts, weder einen angenehmen noch einen unangenehmen Geruch, und sie hört nichts außer dem Eingesogen- und Ausgestoßenwerden kompakter Luftmengen. Bis sich unversehens ein Duft verbreitet, der sich jedoch durchaus mit dem Chlorgeruch verträgt, der die Sauberkeit dieses Ortes verbürgt.
    Der Schüler greift anschließend zum Papier, knüllt es zusammen und wirft es zielgenau in die schwarze Öffnung; dann zieht er an der Kette (so altmodisch sind diese Toiletten: Sie haben keinen Druckknopf, sondern eine Kette). Er ordnet seine Kleidung und geht hinaus. Was er gemacht hat oder daß er vielleicht überhaupt nichts gemacht hat, ist María Teresa egal; wichtig ist nur, daß er nicht geraucht hat, er hat sich keine Zigarette angezündet und keine Rauchwolken ausgestoßen, die anschließend durch die Luft getrieben wären. Und es ist María Teresa, ehrlich gesagt, keineswegs unangenehm, im Gegenteil, von ihrem Versteck aus, an die schwächliche Wand gepreßt wie schon so oft, am Geheimnis dieses unbekannten Schülers teilgehabt zu haben. Es ist ihr nicht unangenehm, nein, auch wenn sie gerne Genaueres darüberwüßte. Gewisse Fragen kreisen diesbezüglich in ihr: Wer war das? Was hat er gemacht? Was hatte er vor? Warum war er da? Eine abschließende Antwort erwartet sie jedoch nicht. Sie achtet sein Geheimnis. Vielleicht weil sie spürt, daß sie damit ihr eigenes Geheimnis vor dem Aufgedecktwerden schützt.
    Wenn schriftliche Prüfungen abgehalten werden, nimmt die Zahl der Schüler, die die Toilette aufsuchen, spürbar ab. Kein Lehrer, mag er sonst auch noch so großzügig sein, würde es einem Schüler gestatten, während einer Prüfung den Klassenraum zu verlassen. Schließlich würde dieser die Gelegenheit nur dazu benutzen, um sich der Hilfe eines jener Zettelchen voller Formeln und Lehrsätze zu bedienen, die die Schüler in ihren Taschen oder unter dem Gummizug ihrer Strümpfe zu verstecken pflegen. Es ist schlicht und ergreifend unmöglich, während einer schriftlichen Prüfung aus der

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